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Caminho Português da Costa 2017

 

Datum Strecke Länge Gesamtlänge
1. 12.06.2017 Porto - Angeiras 24 km 24 km
2. 13.06.2017 Angeiras - Povoa de Varzim 19 km 43 km
3. 14.06.2017 Povoa de Varzim - Marinhas 25 km 68 km
4. 15.06.2017 Marinhas - Viana de Castelo 21 km 89 km
5. 16.06.2017 Viana de Castelo - A Guarda 37 km 126 km
6. 17.06.2017 A Guarda - A Ramallosa 36 km 158 km
7. 18.06.2017 A Ramallosa - Vigo 23 km 181 km
8. 19.06.2017 Vigo - Cesantes 20 km 201 km
9. 20.06.2017 Cesantes - Armenteira 37 km 238 km
10. 21.06.2017 Armenteira - Vilanova de Arousa 25 km 263 km
11. 22.06.2017 Vilanova de Arousa - Herbón 32 km 295 km
12. 23.06.2017 Herbón - Santiago de Compostela 30 km 325 km

 

 

 

Zum Betrachten der Bilderserie bitte auf die Miniatur klicken.

 

 

Erster Tag vergeht wie im Flug

Montag, 12. Juni 2017: Von Porto nach Angeiras

Das Abenteuer kann beginnen. Ich stehe um 2:15 Uhr auf und verabschiede mich von meiner lieben Frau. Knapp 20 Minuten später verlasse ich das Haus. Draußen sind es 20 Grad und es weht ein kühler Wind. Es ist ruhig. Nur vereinzelt fahren Autos auf der Straße und im Vorbeigehen ist an einem Haus erkennbar, dass noch jemand vor dem Fernseher sitzt. Am Himmel ist eine mehr oder weniger dichte Wolkendecke erkennbar, durch die der volle Mond nur selten zu sehen ist. Als ich nach gut zwei Kilometern Marsch durch den Koblenzer Bahnhof laufe, wird die dortige Stille nur vom Betriebsgeräusch der ungenutzten Rolltreppe durchbrochen. In der Bahnhofshalle haben sich einige Menschen auf den wenigen Sitzmöglichkeiten breitgemacht und schlummern vor sich hin. Schließlich erreiche ich den Busbahnhof um 3:07 Uhr und bin leicht angeschwitzt.

Der Bus zum Flughafen Hahn fährt schon wenige Augenblicke später ein und ich löse als Erster ein Ticket. Um 3:30 Uhr setzt die Fahrerin den Bus mit mir und noch zwei weiteren Fahrgästen in Bewegung. Eine gute Stunde später erreichen wir den Busterminal am Flughafen. In der Abflughalle verpacke ich meinen Rucksack in eine Schutzhülle und gebe ihn am Drop Off-Schalter ab. Die Sicherheitskontrolle passiere ich ohne Probleme und kaufe mir ein belegtes Brötchen zum Frühstück. Direkt mir gegenüber sitzt ein Pärchen, das ich anspreche und einen Volltreffer lande. Auf einen Facebook-Post über meinen gepackten Rucksack am gestrigen Abend hatte sich auch Brigitte aus der Nähe von Aschaffenburg gemeldet und sie schrieb, sie und ihr Mann säßen im selben Flieger. Ich unterhalte mich mit ihr und Michael ein wenig und die Zeit bis zum Boarding vergeht sehr schnell. Zwei älteren Damen bin ich bei einem Foto behilflich, auch sie haben den Caminho Português vor sich, wie mindestens zehn weitere Fluggäste - unschwer an Bekleidung oder Ausrüstung erkennbar.

Und der Flug vergeht wie im Flug - ruhig und ohne Zwischenfall - meistens habe ich die Augen dabei geschlossen und döse vor mich hin. Um 9:18 Uhr landen wir in Porto, nach Ortszeit ist es dort aber erst eine Stunde früher. Wir bekommen sehr rasch unser Gepäck zurück und sind abmarschbereit. Ich verabschiede mich von Brigitte und Michael, die sich etwas mehr Zeit lassen und denen ich mich nicht aufdrängen möchte. Auf dem Bahnsteig der Metro mache ich noch ein Foto - und dann spielt meine Kamera nicht mehr mit. Das Objektiv bleibt einfach ausgefahren und bewegt sich keinen Millimeter mehr. Auch der Wechsel des Akkus bringt keine Veränderung der Situation. Das hat mir jetzt noch gefehlt. Dann muss ich wohl ab sofort mit dem Handy fotografieren.

Zwanzig Minuten später steige ich an der Metrostation Trindade aus und bin beinahe im Zentrum von Porto, wo ich mir zunächst in einem Supermarkt zwei Flaschen Wasser und anschließend im Hard Rock-Café noch zwei Pins besorge. Dann wird es Zeit, zur Kathedrale zu gehen, die ab 10:00 Uhr geöffnet hat, um den ersten Stempel zu empfangen. Da treffe ich auch Brigitte und Michael wieder und wir gehen gemeinsam zum Ufer des Rio Douro, wo ich für beide noch ein Erinnerungsfoto vor der Ponte Luis mache. Von dort aus ist die Haltestelle Infante der historischen Straßenbahn Eléctrico unser Ziel, denn wir beabsichtigen die ersten Kilometer entlang des Flusses damit zurückzulegen. Die gleiche Idee haben auch noch viele andere Leute, sodass die Bahn recht voll ist. An der Endstation Passeio Alegre trennen sich unsere Wege, da sich die beiden etwas zu essen besorgen möchten. Die Promenade am Atlantik ist heute sehr gut besucht, viele Spaziergänger und Jogger sind unterwegs, auch der Strand ist stark frequentiert. Das Meer ist heute etwas aufgewühlt und es weht eine ordentliche Brise. Schon bald erreiche ich Matosinhos und stehe vor der noch verschlossenen Türe der Tourist-Info. Da ich nicht bis zur Öffnungszeit warten möchte, setze ich den Weg fort und durchquere den Ort entlang an Fischrestaurants, über die Hubbrücke und durch ein Wohnviertel. Schließlich bekomme ich meinen Stempel in der Tourist-Info von Leça da Palmeira, dem  nördlichen Stadtteil von Matosinhos. 

Hier ist der Atlantik noch aufgewühlter, Millionen von Wassertropfen in der Luft bewirken in der Ferne eine eingetrübte  Szenerie. Ist man jedoch an der vermeintlichen Stelle angelangt, strahlt die Sonne unerbittlich und ungestört vom Himmel herab. Am Leuchtturm erkunde ich die kleine Einsiedelei mit der Capela de Boa Nova und die dahinter liegenden Felsformationen. Dann beginnen die mit Holzbohlen ausgelegten Wege durch die Dünen - unter anderem mit einem gelben Schriftband und dem bekannten Pilgergruß „Bom Caminho“ oder „Buen Camino“ in verschiedenen Sprachen. Von weitem ist irgendwann der markante Obelisk zu sehen, an dem ich meine erste Rast einlege. Eigentlich viel zu spät, geht es mir durch den Kopf. Das muss ab morgen anders werden, denn normalerweise wollte ich alle zwei Stunden eine Pause einlegen. Es gesellt sich ein junger Mann aus der Nähe von Kaiserslautern zu mir und wir quatschen ein wenig. Während wir am Obelisken sitzen, gehen zwei Mädels und ein Pärchen an uns vorbei, die ich aber bald wieder einholen werde. Ich verabschiede mich von meinem Gesprächspartner und starte zu den letzten rund fünf Kilometern. Die heutigen 24,2 km (gut, ein Teil auch mit der Eléctrico) waren sehr kurzweilig und gegen 16:00 Uhr erreiche relativ entspannt den Campingplatz Orbitur, wo ich von der Hospitalera Ulrike empfangen werde. Nach der Erledigung der Formalitäten bekomme ich den Boogie 506 - ein kleines Mobilheim für zwei Personen - zugewiesen. Ich zahle noch das abendliche Pilgermenü und mache es mir dann in meiner Unterkunft bequem. Klar, dass zunächst gewaschen wird und ein Besuch im Pool ist auch ein Muss. Inzwischen sind viele der Mobilheime mit Pilgern belegt. In diesem Jahr ist auf dem Caminho Português ganz schön was los.

Auf dem Weg zum Essen treffe ich erneut Brigitte und Michael, die ihren Tag ebenfalls hier beendet haben. Wir sitzen jedoch an getrennten Tischen und werden uns in den nächsten Tagen nicht mehr über den Weg laufen. Ich bin inzwischen sehr müde und bestrebt, schnellstmöglich in meinem Schlafsack zu verschwinden. Um kurz nach 21:00 Uhr schaue ich das letzte Mal nach der Zeit…

 

   

 

Der Himmel fällt mir hoffentlich nicht auf den Kopf

Dienstag, 13. Juni 2017: Von Angeiras nach Póvoa de Varzim

Gegen 5:30 Uhr werde ich von einem lauten Schlag geweckt. Es zieht eine lang andauernde, heftige Gewitterfront über den Campingplatz hinweg. Irgendwann in der Nacht gab es schon einmal ein kleines Gewitter, das jedoch schnell vorüber war. Der auf das Kunststoffdach meiner Behausung niederprasselnde Regen wurde immer stärker und die Blitze und Donnerschläge kamen immer näher. Das tiefe Grollen des Donners war sogar noch auf meiner Liege so deutlich zu spüren, als wenn ich direkt neben einer Bassbox bei lauter Musik stehen würde. Gerade dachte ich, das Gewitter sei vorbeigezogen, da beginnt es wieder von vorn, wenn auch nicht mehr so heftig. Jetzt kann ich nur warten, bis sich das Wetter so beruhigt, sodass ich mich auf den Weg machen kann. Erste Überraschung am Morgen: meine Kamera ist wie durch ein Wunder wieder bereit, die Zusammenarbeit mit mir aufzunehmen.

Um 7:45 Uhr entschließe ich mich gegen jede Vernunft, nun endlich loszugehen. Doch schon bald stelle ich fest, dass es ein Fehler war. Gerade wieder am Meer angekommen, ziehen sich die Wolken am Himmel erneut zusammen und in der Ferne sind bereits vereinzelte Blitze zu sehen. Auf einer Holzbrücke beginnt es leicht zu tröpfeln und ich beschleunige meinen Schritt. In kurzer Entfernung sehe ich vor mir ein Restaurant mit dazugehöriger Strandbar, die zudem einen überdachten Sitzbereich hat. Dorthin flüchte ich mich, bevor das Gewitter mit voller Wucht und starkem Regen, Blitz und Donner über mich herfällt. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als hier auszuharren, bis sich das Unwetter verzogen hat. Nach einer halben Stunde bekomme ich Gesellschaft von zwei Amerikanerinnen aus Texas. Ihr erster Satz: „What a nice oceanview.“ Damit liegen sie eigentlich gar nicht einmal so verkehrt. Bei sommerlichen Bedingungen und einem kühlen Getränk kann man es hier sicherlich ganz gut aushalten. Man sollte einfach mal das Positive sehen, und da ist dieses Naturschauspiel schon etwas Besonderes. Um 8:55 Uhr, also nach gut einer Stunde des Wartens, verlassen wir den Strand und ziehen weiter in Richtung Norden. So plötzlich, wie das Gewitter aufzog, so verschwand es dann auch wieder. Vor mir laufen noch sechs andere Pilger, eingepackt in Regenumhängen, die ich aber rasch einhole und hinter mir lasse.

Ich bin heute etwas flotter unterwegs, weil für den ganzen Tag unbeständiges Wetter mit vereinzelten  Gewittern vorausgesagt sind. An einer Kreuzung in Mindelo werde ich von einem netten Herrn angesprochen, der mir den richtigen Weg weisen möchte. Aber genau an dieser Stelle haben Jörg und ich uns vor zwei Jahren schon einmal verlaufen. Deshalb verlasse ich mich doch lieber auf meine GPS-Daten und gehe nach einem kleinen Umweg wieder auf den von mir ausgesuchten Weg durch ein Naturschutzgebiet. Kurz darauf lugt die Sonne aus den dichten Wolken hervor, als wolle sie mir sagen: „Du hast alles richtig gemacht, weiter so.“

Mitten im hochgewachsenen Gestrüpp geht es nicht mehr weiter. Vor mir fließt ein durch den Regen kräftig angestiegener Bach, über dem eigentlich eine Brücke auf die andere Seite führen sollte, die jetzt aber fehlt. Also kehre ich um bis zur letzten Kreuzung, wo ich auf meiner Karte eine Alternative finde, um mit einem zusätzlichen Wegstück wieder zurück auf die ursprünglich angedachte Route zu gelangen. Gerade überquere ich eine andere Brücke über den Bach, da fallen schon wieder einige Regentropfen aus dem nicht besonders vertrauensvoll ausschauenden Himmel. Ich entscheide rasch, den Regenponcho überzuziehen, doch so richtig klappt das zunächst nicht. Erst nach mehreren Versuchen liegt der Nässeschutz über mir inklusive Rucksack. Dazu ziehe ich leicht genervt das Gepäck ab, lege den Poncho darüber und schlüpfe hockend unter diese Konstruktion. Schließlich erhebe ich mich und beides auf dem Rücken. Nur zwei Ecken weiter ist das feuchte Intermezzo schon wieder vorbei und die Sonne tut so, als wäre nichts gewesen. Daraufhin kehre ich in einer Bar ein, wo wir ebenfalls vor zwei Jahren waren. Obwohl ich eigentlich keinen Kaffee trinke, ist jetzt der erste Café con leche fällig. Als ich die Bar um 11:15 Uhr mit einem ersten Pilgerstempel im Credencial verlasse, traue ich meinen Augen kaum: strahlender Sonnenschein, blauer Himmel, weiße Wölkchen - also ideales Pilgerwetter. Von dem ungemütlichen Vormittagswetter ist nichts mehr geblieben.

Neben den gelben Pfeilen wurde der Caminho da Costa in den vergangenen Monaten mit neuen Holzstelen und Plaketten  mit gelber Muschel auf blauem Grund gekennzeichnet. Darüber wurde in unserer Facebook-Gruppe ausführlich berichtet. Ein Verlaufen sollte nun eigentlich nicht mehr möglich sein. Bald erreiche ich Vila do Conde mit der prächtigen Kulisse des ehemaligen Karmelitinnenklosters Santa Clara aus dem 14. Jahrhundert, halte mich aber nicht lange auf und hole mir in der Tourist-Info nur den nächsten Stempel ab. Direkt daneben liegt am Ufer des Rio Ave der Nachbau eines Schiffes aus dem 17. Jahrhundert, das gerade von einer Gruppe Touristen bestaunt wird. Von dort laufe ich weiter zum Meer und ab einem kleinen Kastell auf einer befestigten Promenade in Richtung Póvoa de Varzim. Kurz vor dem Ziel laufe ich zu Benjamin auf, wie der Pilger aus der Pfalz heißt, und begleite ihn zur Herberge. Wir treffen um 13:15 Uhr ein und sind die Ersten. Nach einer Weile kommen noch Arba und Toshana aus Kapstadt/Südafrika dazu. Wir warten darauf, dass die Rezeption endlich öffnet. Das sollte eigentlich um 14:00 Uhr geschehen. Arba versucht per Telefon jemanden zu erreichen, ohne Erfolg. Währenddessen betreten in kurzen Abständen ältere Herrschaften, die meisten mit einem Musikinstrument in der Hand, das Gebäude und begeben sich anscheinend in die oberen Stockwerke. Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir hier im Gemeindehaus der katholischen Pfarrei. Ich versuche es dann nach einer weiteren guten Stunde Warterei unter einer anderen Telefonnummer und es meldet tatsächlich eine Dame, die mir verspricht, sich auf den Weg zur Herberge zu machen.

Und so kommt es auch. Zwanzig Minuten später beziehen wir unser Zimmer. Im Anschluss kaufen Ben und ich in einem nahe gelegenen Supermarkt Vorräte für den morgigen Tag. Danach wollen wir etwas zu Abend essen und entschließen uns, das Restaurant gegenüber der Herberge aufzusuchen. Irgendwie funktioniert die Verständigung nicht so, wie wir uns das vorstellen. Während ich mein bestelltes Essen bekomme und verzehre, muss Ben warten. Auch als von meinem Steak und den Beilagen nichts mehr übrig ist, hat er immer noch nichts bekommen. Wir schauen uns nur verwundert an und schließlich bezahle ich. Auch dann macht unsere Bedienung keine Anstalten bezüglich des bestellten und nicht servierten Essens. Irgendetwas ist hier richtig falsch gelaufen.

Wir kehren zurück zur Herberge und treffen in der Küche Kelly aus Kapstadt, Paul aus Litauen und Pablo aus Argentinien, mit denen wir eine angeregte Unterhaltung führen. Ben macht sich über eine Notration aus seinem Rucksack her und bekommt später noch etwas von dem Gemüseeintopf, den Arba und Toshana zubereitet haben. Bis halb acht sind Ben und ich alleine in unserem Zimmer, dann treffen noch zwei Polinnen ein. Sie fragen nach der Rezeption und wir schicken sie in die gegenüberliegende Kirche. Dort soll sich jemand aufhalten, der ihnen weiterhelfen kann. Kurz darauf erscheinen sie erneut und sehen uns nur fragend an. Schließlich haben sie wohl doch noch jemanden erreicht und bekommen die verbliebenen zwei Betten der Herberge bei uns. Ben und ich unterhalten uns noch eine Weile, dabei erzählt er mir über seine gesundheitlichen Probleme und ich ziehe meinen Hut vor ihm, wie offen er damit umgeht und wie er sie stemmt.

 

   

 

High noon und das Tagwerk ist vollbracht

Mittwoch, 14. Juni 2017: Von Póvoa de Varzim nach Marinhas

Heute Nacht habe ich unruhig geschlafen, daher war es nicht verwunderlich, dass ich schon relativ früh wach war. Es hat dann doch noch bis 6:30 Uhr gedauert, bis ich meinen Schlafsack und meine gestern Abend auf einem Stuhl vorbereiteten Sachen packt habe, um mich dann in der Küche für den Abmarsch fertig zu machen. Mitten in den Vorbereitungen kommen zunächst Ben, danach noch Pablo und Paul für ein Frühstück dazu. Ich bin dann gegen 7:00 Uhr wohl der Erste, der die Herberge verlässt. Das ist eigentlich spät für Pilger. Viele machen sich bereits mit Einbruch der Morgendämmerung auf den Weg in den Tag. 

Ich begebe mich direkt an die langgezogene Strandpromenade und laufe parallel zum Meer in Richtung Norden. Im Gegensatz zu gestern hat sich das Wetter komplett geändert. Am strahlend blauen Himmel ist kein Wölkchen zu sehen und im Osten geht soeben die Sonne auf, während im Westen noch der blasse Mond am Horizont zu sehen ist. Mir begegnen erneut sehr viele Einheimische, die ihrem Frühsport nachgehen. Pilger kann ich jedoch noch keine erkennen. Beschwingt bewege ich mich vorwärts und spüre, dass ich jetzt richtig angekommen bin. Es macht Spaß, auf den kilometerlangen Holzstegen am Meer entlangzulaufen, dem Rauschen der Wellen zu lauschen und von vorwitzigen Möwen begleitet zu werden. Es ist ein Genuss, die frische morgendliche Seeluft einzuatmen, während mir eine frische Brise entgegenbläst und die merklich ansteigende Temperatur deutlich angenehmer werden lässt.

Nach einer guten Stunde Gehzeit erreiche ich die noch geschlossene Caminho Beach Bar am Praia de Santo André. In diesem Moment trifft die Betreiberin ein und hetzt vom Parkplatz ihres Auto die drei Treppenstufen zu mir herunter. Sie heißt Saozita und fragt mich, ob ich einen Stempel haben möchte. Dieses Angebot nehme ich natürlich gerne an und wir kommen ein wenig ins Gespräch. Ich habe außerdem die Ehre, eine Muschel zu signieren, die dann an einem kleinen Gestell zu bereits vorhandenen Muscheln aufgehängt wird. Saozita erzählt mir von ihren bisherigen Caminos und macht auch noch ein Foto von mir, das sie auf Facebook einstellt. Wenn ich das richtig verstanden habe, hat sie die Bar erst in diesem Jahr eröffnet und damit einen Volltreffer gelandet. Diese ungezwungenen Begegnungen mit freundlichen und zuvorkommenden Menschen machen den Jakobsweg lohnenswert. Der Caminho ist ein Weg des Friedens, wo sich Menschen aus aller Herren Länder mit den unterschiedlichsten Sprachen gut verstehen und friedvoll miteinander umgehen. Diesen Spirit sollten wir alle in die Welt hinaustragen, damit sie ein wenig besser wird.

Soweit das Auge reicht, kann ich den Weg, immer noch bestehend aus Holzplanken, erkennen. Links befindet sich der Ozean und rechts laufe ich an einem Dorf vorbei. An einem von einer Mauer umgebenen Fußballstadion endet der schöne Weg und ich wende mich nun vom Meer ins Landesinnere. Dort erwartet mich eine völlig andere Landschaft sowie ein längeres Stück Straße, das mit Kopfsteinpflaster versehen ist. Ich passiere weitläufige Gemüseanbauflächen, auf denen oftmals riesige Gewächshäuser aufgebaut wurden. Auf einigen Feldern herrscht reges Treiben, man ist mit Zwiebelernte beschäftigt. Auch anderes Gemüse und Salat werden von fleißigen Helfern in Kisten verpackt. Ständig überholen mich Traktoren, die Anhänger mit gestapelten Kisten voller Feldfrüchte hinter sich herziehen, und verschwinden in einer kleinen Staubwolke.

Nach gut zwei Stunden seit meinem Abmarsch in Póvoa de Varzim lege ich auf einem Mäuerchen an der Straße eine kurze Pause ein, denn ich spüre ein leichtes Zwicken an meinem rechten Fuß. Zum Glück stellt sich bei der Untersuchung heraus, dass ich mir keine Blase gelaufen habe. Sicherheitshalber klebe ich ein Stückchen Tape auf die entsprechende Stelle. Ich nutze die kleine Pause auch, um mich der Hosenbeine zu entledigen und verzehre ein Stück von dem gestern gekauften Baguette. In der Nähe des Campingplatzes Orbitur Rio Alto sorgt ein Kiefern- und Eukalyptuswald für eine willkommene kühle  Abwechslung. Kurz darauf treffe ich in Apulia an einer Infotafel zum Caminho Kelly aus Kapstadt und hole mir in der überraschenderweise geöffneten Pfarrkirche einen Stempel. Es dauert nur ein paar Minuten, dann habe ich Kelly erneut eingeholt. In dem kurzen Gespräch erfahre ich, dass ich heute Morgen doch nicht als erster Pilger die Herberge verlassen habe. Kelly ist bereits um 6:00 Uhr losmarschiert, weil sie wegen Problemen mit ihrem Sprunggelenk nur langsam gehen kann. Eigentlich möchte sie auch bis Marinhas laufen, aber wenn es nicht geht, wird sie sich in Esposende eine Unterkunft suchen. Ich verabschiede mich von ihr, wünsche ihr „Bom Caminho“ und nehme wieder meinen Schritt auf.

Nach anderthalb Stunden auf Kopfsteinpflaster unterbricht ein kühles Waldstück den Verlauf; das ist sehr angenehm. Bald erreiche ich Fão, wo sich die Gemeinde eine schöne Stempelstelle einfallen ließ: man hat den Pilgerstempel in einer roten Telefonzelle platziert. Irgendwem hat das nicht gefallen und es wurde die Stempelpatte dermaßen zerstört, dass man keinen vernünftigen Stempelabdruck hinbekommt. Nachdem ich Fão durchlaufen habe, überquere ich den Rio Cávado und kann von der Stahlbrücke Ponte Luis Filipe aus auch wieder ein wenig das Meer erahnen, auf das ich jetzt wieder entlang des Flusses auf einem Fußweg zulaufe. Schließlich erreiche ich Esposende, wo sich am Ortseingang eine schöne Stele mit Infotafel befindet. Von diesem schmucken Plätzchen aus werde ich durch den Ortskern geführt. In zwei Kirchen liegen Stempel aus, die ich mir freudig in mein Credencial drücke. Mitten in einer Fußgängerzone spricht mich eine Frau an, ob ich nicht ihre neue Pilgerherberge anschauen und dort übernachten wolle. Es kostet mich einige Überzeugungskraft, ihr klarzumachen, dass ich mir für heute bereits die Herberge in Marinhas als Ziel ausgesucht habe. Sie scheint sich nicht damit abfinden zu wollen, dass ich die noch einige Kilometer entfernte Herberge ihrer Unterkunft vorziehen möchte und bleibt kopfschüttelnd zurück. Bevor ich Esposende verlasse, passiere ich eine Schule, wo gerade große Pause ist. Einige vorwitzige Schüler sprechen mich in mehreren Sprachen an und sind total verzückt, als ich ihnen auf Englisch antworte und zuwinke. Schließlich erreiche ich wieder den Rio Cávado und dessen Mündung in den Atlantik. Wie so oft an der Küste, gibt es auch hier ein kleines Kastell.

Von dort sind es jetzt nur noch zwei Kilometer bis zur Pilgerherberge in Marinhas, die vom Portugiesischen Roten Kreuz auf Spendenbasis betrieben wird und wo ich schon wieder einmal als Erster gegen 12:30 Uhr ankomme. Ein Hinweis schickt mich zurück zur örtlichen Rot Kreuz-Station, wo mir mitgeteilt wird, dass die Herberge erst um 14:00 Uhr öffnet. Die Zeit bis dahin nutze ich für einen Einkauf in einem kleinen Supermarkt, an dem ich auf dem Weg nach Marinhas vorbeilief. Wieder zurück an der Herberge verkürze ich mir die Wartezeit mit kaltem Dosenbier, einem Stück Salami und dem restlichen Baguette. Wenig später trudeln zwei russische Pilgerinnen ein, die mir ein Stück ihrer Melone anbieten.

Beinahe pünktlich erscheint der Hospitalero und nimmt uns auf. Wie in jeder Herberge werden die persönlichen Daten notiert. Hier bekommt jeder Pilger noch ein Armband umgelegt. Den Übernachtungsobolus werfe ich einen bereit stehenden Behälter. Danach suche ich mir in der hinteren Ecke des größeren Schlafraumes mein Bett aus und mache es schon für die Nacht fertig. Die Herberge scheint noch nicht lange in Betrieb zu sein, alles sieht noch sehr unverbraucht aus. Im Obergeschoss befinden sich zwei Schlafräume, eine kleine Küche und ein Wohnzimmer mit Internetanschluss. Im Untergeschoss sind die großzügigen Duschkabinen und ein Waschraum. Den nutze ich auch direkt und hänge die nasse Wäsche hinter dem Gebäude an einem Maschendrahtzaun auf, der um das Gelände gebaut wurde. Im Laufe des Nachmittags trudeln zu meiner Freude Kelly und Ben ein, die sich unterwegs getroffen haben. Ansonsten nimmt die Internationalität zu: Ina aus Costa Rica, Antonio aus Italien, Chai aus Korea und auch unsere polnischen Zimmernachbarn aus Póvoa de Varzim, Lija und Monika, haben es bis Marinhas geschafft. Heute Abend wollen wir gemeinsam etwas essen gehen.

 

   

 

It's a beautiful day, don't let it get away (U2)

Donnerstag, 15. Juni 2017: Von Marinhas nach Viana do Castelo

Das war eine Horror-Nacht. Nach zwei Stunden tiefem Schlaf ging gegen Mitternacht die Katastrophe los. Unmittelbar neben mir befand sich das Epizentrum einer überdimensionalen Schnarchwelt. Es war kaum auszuhalten. Eine ganze Stunde lang versuchte ich, wieder einzuschlafen, was mir aber gänzlich misslang. Also schritt ich zur Tat, ergriff meinen Schlafsack samt Wertsachen und verließ den Schlafraum. Ich holte aus einem Schrank vier Decken und bereitete mir damit im Wohnzimmer ein Nachtlager auf dem Boden. Durch das geöffnete Fenster direkt über mir konnte ich zwar noch die Unterhaltung zweier Pilger auf der Treppe der Herberge mitverfolgen, doch schon bald schlief ich ein. Das war eine sehr gute Entscheidung, denn ich konnte bis 5:30 Uhr noch einigermaßen gut schlafen. Nachdem ich aufgestanden war, musste ich feststellen, dass sich noch weitere Schläfer hierhin verzogen hatten.

Bereits am gestrigen Nachmittag hatte ich festgestellt, dass ich mir ein Stückchen Haut unter dem rechten großen Zeh abgerissen hatte. Um Schlimmerem vorzubeugen, klebe ich ein Blasenpflaster darüber. Um mich herum beginnt ein reges Treiben. Rucksäcke werden gepackt, Füße eingecremt und kleine Snacks verzehrt. Die Uhr zeigt 7:30 Uhr, als ich marschbereit bin und die Herberge verlasse. Ich habe mich kurzerhand dazu entschieden, die geplante Strecke etwas zu verkürzen und mit Ben, Lija und Monika heute Abend in der Herberge in Viana do Castelo zu übernachten. Nach wenigen Metern laufe ich an der örtlichen Kirche vorbei, die wegen des heutigen Feiertages Fronleichnam bereits geöffnet ist  und werfe einen Blick hinein. Nach einem kurzen Gebet mache ich mich auf den Weg.

Und wieder einmal werde ich zu Beginn des Tages überrascht: eine ältere Dame überreicht mir freudig zwei kleine Pfirsiche und wünscht mir eine gute Reise. Das ist zum wiederholten Male eine spontane Begegnung, die in Erinnerung bleiben wird. Nach wenigen Schritten durch Marinhas hole ich auch das Epizentrum des Schnarchens ein, nämlich Antonio und Ina, die übrigens hervorragend Deutsch spricht, weil ihr Vater Deutscher war. Eine gute Viertelstunde lang begleite ich die beiden, die schon gemeinsam den Olavs-Weg in Norwegen gelaufen sind. Nach einer Weile lasse ich die beiden wieder alleine und ziehe von dannen. Die Umgebung ist noch von Nebelschwaden umhüllt, aber es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis sich der Dunst verzieht und der wolkenfreie, sonnige Himmel zum Vorschein kommt.

Gegen 8:15 Uhr erreiche ich in Belinho eine geöffnete Bar, wo sich schon einige Pilger zum Kaffee niedergelassen haben. Ich bestelle mir bei dem freundlichen Wirt einen Café con leche und ein Brötchen mit Schinken und Käse, das von seiner Frau im angrenzenden Lädchen frisch zubereitet wird. Als Zugabe erhalte ich auch den ersten Pilgerstempel des heutigen Tages. Ich darf mich zu zwei jungen Frauen an den Tisch setzen, die sich als Linny und Tina aus dem Raum Frankfurt vorstellen. Die beiden haben die Nacht in der neuen, von mir „verschmähten“ Herberge in Esposende verbracht und waren begeistert. Eine halbe Stunde später verabschiede mich von den beiden und mache ich mich wieder auf den Weg. Wir werden uns wahrscheinlich heute Abend in Viana do Castelo wiedersehen.

Inzwischen ist der Nebelvorhang verschwunden und die Sonne kann sich frei entfalten. Und wieder passiert etwas Unvorhergesehenes: zum ersten Mal habe ich auf dem Caminho in freier Landschaft Netz auf meinem Handy und von meiner Frau eine Nachricht mit guten Wünschen für den heutigen Tag. An einer wunderschönen Stele beginnt circa zwanzig Meter oberhalb des Rio Neiva ein schmales Tal, in das ein  Trampelpfad hineinführt. Das ist Natur pur und zugleich ein Genuss für alle Sinne. Es riecht nach Eukalyptus, rechts rauscht der Rio und unsichtbare Vögel musizieren in den Bäumen. Das ist bisher der schönste Abschnitte in diesem Jahr. Es geht leicht abwärts und ich muss bei jedem Schritt aufpassen, dass ich auf dem felsigen Untergrund meine Füße richtig setze, um nicht auszurutschen. Schließlich erreiche ich an einem kleinen Haus den Rio Neiva und überquere ihn über eine schmale Steinbrücke. Dort treffe ich auch meine ersten Wegbegleiter des heutigen Tages, Antonio und Ina, und eine finnische Familie, die auch in Marinhas übernachtet hat. Aus dem Tal steigt der Weg steil an und an einem umzäunten Gelände sitzt Ben, der eine Pause macht. Nach einem Smalltalk mit ihm gehe ich weiter bergauf, wir verabreden uns für später in Viano do Castelo.

Nach den drei ersten flachen Etappen ist das momentane hügelige Profil zunächst ungewohnt und strengt mich unter der weiter aufziehenden Sonne nicht gerade wenig an. Der Aufstieg in Castelo do Neiva zur Santiago-Kirche ist mit einem wunderbaren Ausblick versehen. An der Kirche werden die Pilger von einer Pfadfindergruppe in Empfang genommen. Neben einem Pilgerstempel werden wir mit Obst, Brötchen und Getränken versorgt. Ich schaue mir jedoch zunächst die Kirche an und nach meiner Rückkehr auf den Vorplatz sehe ich ganz viele bekannte Gesichter. Neben Ben sind auch die Finnen, Lija und Monika sowie fast alle weiteren Übernachtungsgäste von gestern eingetroffen. Wir erfreuen uns an den Gaben der Pfadfinder und sprechen unbekümmert mit den Kindern und Jugendlichen. Die einzige Gegenleistung die wir erbringen sollen ist ein Lächeln, das wir sehr gerne und bereitwillig geben. Anschließend geht es weiter durch kühlen Wald und ich bin immer noch ganz ergriffen von der Herzlichkeit, die uns eben entgegengebracht worden ist. Hier werden wildfremde Menschen mit offenen Armen aufgenommen und versorgt. Da kullern dem Pilger schon am vierten Tag die ersten Tränen aus den Augen vor Rührung. Wie großzügig ist doch Gottes Entschädigung für das unbedeutende Schnarchen in der Nacht, geht es mir durch den Kopf.

Nachdem ich ein ehemaliges Kloster passiert habe, geht es auf wenig befahrenen Landstraßen durch verschlafene Dörfer weiter. In Vila Nova de Anha kann man sich in der Pfarrkirche einen Stempel abholen und sich in das ausliegende Pilgerbuch eintragen. Meinen Berechnungen zufolge sollte ich mein heutiges Tagesziel in einer guten halben Stunde erreichen. An einer steilen Aufwärtspassage überhole ich ein älteres deutsches Ehepaar, beide tragen die weltbesten Wandersocken von wrightsocks mit der Jakobsmuschel. Die beiden mühen sich hier sehr ab, doch schon bald geht es genauso steil abwärts mit schattigen Abschnitten. Von hier oben kann ich bereits einen Blick auf Viana do Castelo und den Rio Lima erhaschen. Es geht jetzt nur noch abwärts und dann über die Lima-Brücke. Den ganzen Tag hat man nichts vom Meer gesehen, dafür riecht man die See jetzt förmlich vor sich. Viana do Castelo liegt unmittelbar an der Mündung des Rio Lima in den Atlantik und hat auch einen eigenen Hafen.

Um 12:30 Uhr stehe ich vor der Albergue São João Da Cruz dos Caminhos, die vom Karmeliterorden zur Verfügung gestellt wird, aber erst um 15:00 Uhr öffnet. Ich vertreibe mir die Wartezeit in einer Bar in einem nahe gelegenen Park mit einem kleinen Snack und einem kühlen Bier. Kurz vor der Öffnungszeit der Herberge begebe ich mich zur Rezeption und werde schon grinsend von Lija, Monika, Ben, Linny und Tina erwartet. Die heutige Besetzung wird komplettiert mit Paul, den beiden Russinnen, einer Belgierin, weiteren Polen und Chai, die in Berlin lebt. Später stoßen noch Marja aus den Niederlanden und Sam von den Fidji-Inseln dazu, die beide mit dem Fahrrad unterwegs sind und einen behinderten Landsmann mittels Anhänger über den Caminho ziehen.

Die letzte Überraschung des Tages erfolgt gegen Abend: der Autor des Pilgerführers für den Caminho Português, Raimund Joos, schaut auf einer Recherchetour in unserer Herberge rein. Wir reden ein wenig, auch über den Conrad Stein Verlag, bei dem unsere Pilgerführer erscheinen. Da Ben und ich kein passendes Restaurant am Abend finden, studieren wir hoffnungsvoll die Speisekarte einer Gaststätte in der Nähe der Herberge. Da kommt Raimund heraus und empfiehlt uns das Pilgermenü. Wir nehmen seine Einladung gerne an und setzen uns zu ihm an den Tisch. Es wird ein netter Plausch, bei dem er uns ein wenig über seine Recherchen erzählt. Fast beiläufig erwähnt er, dass nach Verlagsangabe der Führer für den Caminho Português in diesem Jahr bereits sechstausendmal verkauft wurde. Das bestätigt meine Vermutung, dass in diesem Jahr deutlich mehr Pilger auf dem Weg unterwegs sind als noch im Jahr 2015.

 

   

 

Morgens Portugal, mittags Spanien und am Abend Reggae aus Barbados

Freitag, 16. Juni 2017: Von Viana do Castelo nach A Guarda

Ben, Lija, Monika und ich haben gestern Abend noch ausgemacht, dass wir versuchen wollen, uns heute in A Guarda in der Pilgerherberge zu treffen. Ich bin gespannt, ob wir vier tatsächlich dort heil und gesund ankommen, denn die Strecke beträgt heute circa 37 km. Ben ist bereits um 6:30 Uhr losmarschiert, ich verlasse die Herberge eine Viertelstunde später. Lija und Monika lassen sich noch etwas Zeit. Auf Facebook wurde mir gestern ein Abschnitt entlang des Meeres empfohlen, den ich zumindest in Teilen befolgen werde. Ich fühle  mich heute richtig fit und bin zudem richtig gut ausgeschlafen, denn wir hatten keinen lauten Schnarcher in unserem Schlafraum, der immerhin mit vierzehn Schläfern belegt war.

Zunächst geht es quer durch Viano do Castelo, das für ein Fest mittelalterlich geschmückt wird. Bereits nach einer halben Stunde erreiche ich mit gutem Tempo das Meer und wende mich nach Norden, wo ich jetzt in unmittelbarer Nähe des Ozeans mit seinem felsigen Ufer entlanglaufe. Im Gegensatz zu gestern hat sich die Landschaft schon wieder krass verändert. Ich passiere gerade zwei kleinere Tümpel, in denen zahlreiche Frösche quaken und zu meiner Linken befindet sich eine riesengroße Baustelle. Dahinter kann ich bereits die Brandung des Meeres hören. Das Rauschen der Wellen habe ich gestern doch vermisst. Schließlich zweige ich an einer S-Kurve von der Straße ab und begebe mich auf einen kleinen Feldweg in Richtung Ufer. Die Wellen brechen sich mit lautem Getöse an den Felsformationen und der Duft des Meeres steigt mir in die Nase. Ich bewege mich auf einer schön angelegten Promenade auf ein weiteres Kastell zu, das erste, das sich in keinem guten Zustand mehr befindet. An der Ruine beginnt nun ein Weg, der mich seit längerem wieder einmal über Holzplanken, aber auch befestigte Wege und Kopfsteinpflaster führt.

Nach circa 9,5 km verlasse ich die Atlantikküste und wende mich wieder dem östlich verlaufenden Caminho Português da Costa zu. Dieser Abschnitt war zwar wunderschön, aber ich möchte nicht den ganzen Tag nur am Meer entlanglaufen, sondern auch etwas Abwechslung für die Sinne erfahren. Außerdem befürchte ich, dass ich in der Nähe des Ozeans keine Möglichkeit haben werde, in einer Bar einzukehren. Allmählich macht sich ein Hungergefühl breit. Wie bestellt, muss ich gar nicht so lange darauf warten, denn in Carreço befindet sich bereits eine geöffnete Bar, wo ich zu meiner Freude Ben treffe. Bei ihm läuft es heute ganz gut und er ist frohen Mutes, unser auserkorenes Ziel A Guarda heute Abend zu erreichen. Nach einer halbstündigen Pause setze ich meine Pilgerwanderung um 9:15 Uhr fort. Ursprünglich wollte ich hier in einer privaten Herberge übernachten, doch die Gemeinschaft mit meinen Pilgerfreunden hat meine Pläne verändert. Das war auch gut so, denn am Portal der Herberge prangt noch vom Vortag das Schild mit der Aufschrift „completo“. Nachdem ich Carreço durchlaufen habe, gelange ich wieder in ein schattiges Waldstück mit Eukalyptusbäumen und Kiefern.

Der hügelige und zum Teil mit großen Steinbrocken versehene Weg hat seinen Reiz und man muss schon bei der Sache sein, um nicht irgendwo zu stolpern oder hängen zu bleiben. Wenn ich mir vorstelle, dass hier Anne-Chantal, die Gründerin der Facebook-Seite Camino Português, hier mit dem Rollstuhl unterwegs  war, wird mir ganz anders. Ich ziehe meinen Pilgerhut und zolle ihr meinen vollsten Respekt zu. Für eine solche Leistung, gerade mit ihren Einschränkungen, muss man stark sein und eine unglaubliche Energie aufbringen. Ihr Lebensmotto, mit dem sie sehr viel bewegt, „Sonne im Herzen“, hilft ihr in solchen Situationen sicherlich weiter. Da läuft es mir eiskalt den Rücken herunter.

In einem idyllischen Tälchen liegt das ehemalige Convento de São João de Cabanas der Benediktiner direkt am Rio Afife. Dort öffnet sich mir eine traumhafte Kulisse für einen Fotostopp. Nur ein paar Augenschläge später treffe ich Ben in einer Bar und wir halten wieder einmal einen netten Pausenplausch. Das nächste Mal werden wir uns dann wohl in Caminha an der Fähre treffen. Nach knapp drei Kilometern gelange ich hinter Vila Praia de Âncora zurück an das Meer und gehe auf einer Strandpromenade weiter nach Norden, wieder einmal an einem Kastell vorbei. Die Route führt aus der Stadt heraus und mündet an einer kleinen Kapelle am felsigen Strand auf einen befestigten Weg, der sich bis Caminha hinzieht. In der Ferne ist die Mündung des Rio Miño sowie jenseits des Flusses das Örtchen O Muiño zu erkennen. Darüber erhebt sich der Monte de Santa Trega, der zurzeit noch von einer Dunstwolke umgeben ist.  

Am Strand von Moledo verlasse ich diesen durch das Städtchen und gelange über eine nicht stark frequentierte, aber unendlich lange, geradeaus führende Landstraße nach Caminha. Eigentlich habe ich Durst, meine Getränkevorräte sind aufgebraucht. Im Zentrum befinden sich genügend Bars, vor denen die zugehörigen Tische schon so gut wie alle belegt sind. Ich möchte mich jetzt nirgendwo dazusetzen, sondern möchte etwas Ruhe haben. Eigentlich komisch, denn auf dem bisherigen Weg hatte war ich überwiegend alleine und hatte meine Ruhe. Schließlich erreiche ich gegen 13:30 Uhr die Landungsbrücke der Fähre und damit die nördliche Grenze Portugals auf meiner Route. Als erstes bestelle ich mir zwei große Bier, die blitzschnell verdunstet sind. Ich bin nicht alleine hier. Rund um den Kiosk haben sich bereits rund dreißig Pilger eingefunden. „Die wollen alle nach A Guarda? Hoffentlich reichen die Betten in der Herberge auch noch für uns“, schießt es mir durch den Kopf. Kurz vor 14:00 Uhr herrscht Aufbruchsstimmung, denn die Tore zur Fähre werden geöffnet. Ich entscheide mich jedoch für die nächste Fahrt, in der Hoffnung, dass Lija, Monika und Ben bis dahin hier sind. Kaum ist das Fähre außer Sichtweite, kommen die drei schon um die Ecke gelaufen. Pünktlich um 15:00 Uhr steigen wir auf die Santa Rita de Cássia und steuern auf das spanische Festland zu. Kurz vor der Abfahrt rollen auch noch Marja und Sam auf die Fähre.

In Spanien gelandet, müssen wir noch einen kleinen Berg überwinden, bis wir in der öffentlichen Herberge von Hospitalero Antonio aufgenommen werden. Lija und Monika unterhalten sich mit ihm in ihrer Muttersprache, da er polnische Wurzeln hat. Er erklärt uns sehr detailliert die örtlichen Gegebenheiten und gibt uns Tipps für den nächsten Tag. Das Abendessen nehmen wir in einem Tapas-Restaurant am Hafen von A Guarda ein. Dabei erhalten wir noch Gesellschaft von Marja. Sie erzählt uns vom Schicksal ihres Schützlings, das einen gruseln lässt. Bei der Geburt starb seine Mutter, kurz darauf auch noch sein Vater. Im Dorf ging daraufhin die Meinung um, er sei vom Bösen besessen. Man sperrte ihn in einen Hühnerstall und ließ ihn nicht in die Öffentlichkeit. Nur zufällig konnte er aus seiner misslichen Lage befreit werden, hatte allerdings einige Schäden davongetragen. Und nun sind Marja und Sam mit ihm unterwegs auf dem Jakobsweg. Da sie mit dem Fahrrad flott vorwärts kommen, machen sie unterwegs öfters Halt, um dem jungen Mann auch Gelegenheit zur Bewegung zu geben.

Trotz der unfassbaren Geschichte wird es ein wunderschöner Abend, den mit einem farbenfrohen Sonnenuntergang gekrönt bekommen. Den Abschluss möchten wir in der Herberge mit einem Erinnerungsphoto begehen. Auf der Suche nach einem Fotografen, frage ich durch das offen stehende Küchenfenster hinein, ob jemand das Foto machen könnte. Kurz darauf erscheint der  hochgewachsene David aus Barbados auf dem Hof und besteht darauf, uns vorher mit seiner Mini-Gitarre ein Reggae-Ständchen darbieten zu dürfen. Es werden sehr stimmungsvolle Minuten mit Tanz und rhythmischem Klatschen. Wir danken David sehr herzlich für diesen gelungenen Abschluss eines schönen Pilgertages.

 

   

 

Asphalt und Hitze - keine gute Kombination

Samstag, 17. Juni 2017: Von A Guarda nach A Ramallosa

Jetzt sind wir in Spanien, in Galizien. Nach dem ereignisreichen Abend verlief die Nacht einigermaßen gut, obwohl es wieder ein kleines Schnarchkonzert gegeben hat. Wenn in unserem Schlafsaal nicht eine leichte Unruhe aufgekommen wäre, hätte ich wahrscheinlich heute verschlafen. So stehe ich dann doch letztendlich um 6:45 Uhr auf und mache mich abmarschbereit. Ich suche meine Sachen zusammen und verstaue alles in der Küche in meinem Rucksack. Einige andere Pilger sind mit ähnlichen Arbeiten beschäftigt, während sich  andere ein Frühstück zubereiten.  

Eine halbe Stunde später habe ich mein Bündel auf den Rücken gepackt und ziehe los. Ben und die Mädels sind bereits vor einer Weile vor mir losgezogen. Von meiner gestrigen Wäsche sind Socken und Unterhemd noch feucht geblieben, sodass ich sie an meinem Rucksack befestige. Dort können sie dann im Laufe des Tages in der Sonne trocknen. Die heutige Etappe wird erneut etwas länger werden, da es zwischendurch keine Unterkunft gibt. Die Route führt mich zunächst über eine Treppe hinunter direkt ans Meer und dann über einen schmalen Pfad mit felsigem Geläuf. Ich glaube, so nahe am Wasser bin ich bisher noch nicht entlanggelaufen. Es ist angenehm kühl, doch die gerade aufgehende Sonne verspricht wieder einiges an Hitze.

Nach zweieinhalb Kilometern zwingt mich ein erster fieser Anstieg zum Verlassen des Küstenstreifens. Zwar kehre ich dorthin noch einmal zu einem kurzen Abstecher zurück, werde aber schon bald an eine zu dieser Uhrzeit noch nicht stark befahrenen Landstraße geführt. Auf dem markierten Fahrradweg verbleibe ich eine gefühlte Ewigkeit. Manchmal verläuft der Radweg auch etwas unterhalb der Straße und bietet dadurch wenigstens etwas Abwechslung. Dann erkenne ich circa einhundert Meter vor mir Ben, der seine erste Pause in einer Bar in Portecelo eingeplant hat. In dem Örtchen laufe ich auf ihn auf, doch wir finden nicht die in seinem Führer angegebene Bar. Daher verbleibt er auf einer Sitzbank, während ich weiterziehe.

Ich bin jetzt gut neunzig Minuten unterwegs und die Temperatur ist immer noch sehr angenehm. Glücklicherweise befindet sich rechter Hand ein langgezogener Bergrücken, der die Sonne bis jetzt abhalten kann. Nur wenige Minuten später ist sie mit voller Kraft da und ich spüre, wie die Natur auf einmal zu leben beginnt. Entlang des Weges wird gerade das Morgenkonzert der Vogelschar aufgeführt, während das Rauschen des Ozeans den passenden Hintergrund dazu bietet. Dann schiebt sich noch einmal der Berg dazwischen und die Sonne ist erneut für eine Weile verschwunden. Als ich mal wieder die Landstraße verlasse und nahe am Meer entlanglaufe, ist es mit dem Schatten für heute endgültig vorbei. Ein freundlicher Fahrradfahrer gibt mir den Hinweis, dass es nicht mehr weit bis zu einer Bar sei. Davor ist der Wirt gerade dabei, mit einem Wasserschlauch den Gehweg zu reinigen. Ich kehre nur zu einer wirklich winzigen Pause ein in den dunklen Raum ein, da es nichts anderes als Getränke gibt und der Wirt nicht den Anschein macht, mir auch etwas zu essen machen zu wollen.

Ich setze meine heutige Route unterhalb des Real Monasterio de Santa María de Oya, einem ehemaligen Zisterzienserkloster aus dem XII. Jahrhundert fort. Hinter Oya geht es weiter auf dem Fahrradweg, der sich nun zwischen Weideland, Ackerflächen und vereinzelt stehenden Häusern, die alle mit Wällen aus großen Steinblöcken eingerahmt sind, befindet. Seit geraumer Zeit trägt mir die warme Luft Musik an die Ohren, ich kann jedoch die Quelle nicht genau orten. Erst in einer der folgenden Ansiedlungen kann ich konkret sagen: von hier kommt die Musik. Im Ortszentrum fand wohl eine Festivität statt, die jedoch schon vorbei ist. Auf dem Festplatz ist man mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Mein Magen meldet sich und verlangt nach Nahrung. Er muss mit einem Apfel Vorlieb nehmen, bis ich in O Porto in einer Bar neben der privaten Albergue Turístico Aguncheiro fast eine Stunde Mittagspause mache. Leider bekommen ich auf meine Anfrage nach fester Nahrung nur ein Kopfschütteln. Also belasse ich es bei einem leckeren Estrella. Als dann aber ein anderer Gast am Nebentisch ein Boccadillo verzehr, frage ich noch einmal nach. Kurz darauf bekomme ich ebenfalls ein Boccadillo mit Schinken und ein zweites Bier serviert. War wohl ein Kommunikationsproblem. Um 12:10 Uhr geht es schließlich weiter.

Kurz vor As Marinas darf ich endlich die Straße verlassen. Dafür geht es jetzt einen steilen Berg hinauf. Ich passiere ein Wildgitter und schließe es gemäß dem angebrachten Hinweisschild sorgfältig hinter mir. Mit dieser Abkürzung umgehe ich den Monte de Baredo, an dem der rot-weiße Leuchtturm Faro Silleiro stolz in die Höhe ragt, in Richtung Baiona. Das Thermometer ist inzwischen auf einunddreißig Grad geklettert und der Schweiß läuft in Strömen. Die nächsten Kilometer variieren ständig in der Höhe. Irgendwie gefällt meinem linken Fuß dieses Auf und Ab nicht besonders, denn ich spüre einen leichten schmerzhaften Druck. Mitten in meinen Gedanken erreicht mich die Nachricht von Ben, dass er mit dem Auto unterwegs zu unserer geplanten Unterkunft El Pazo Pías sei und Zimmer, auch für Lija und Monika sowie Marja und Sam, reserviert hätte.

Vor mir liegen noch ein paar Kilometer und mein Wasservorrat neigt sich dem Ende zu. Wieder einmal verpasse ich es, in einem Ort in einer Bar nachzutanken. Zum Glück habe ich im Rucksack noch eine Notreserve - eine kleine Flasche Cola, die jetzt dran glauben muss. Gegen 16:15 Uhr treffe ich erschöpft und ohne einen Tropfen Flüssigkeit in Ramallosa ein. Nach Erledigung der Formalitäten zeigt mir der Angestellte mein Zimmer, in dem Ben sich bereits breitgemacht hat. Na ja, besonders breit machen kann man sich nicht. Das Zimmer ist so klein, dass man gerade noch zwischen den beiden Betten durchgehen kann. Aber es ist sauber, wir haben ordentliche Bettwäsche und auch die sanitären Anlagen auf dem Flur sind absolut in Ordnung.

Nach Körper- und Kleiderpflege legt sich Ben etwas hin und ruht sich aus. Der heutige Tag hat ihn ganz schön angestrengt und er braucht jetzt dringend Ruhe. Währenddessen plündere ich den Getränkeautomaten und treffe auf der Eingangstreppe Leute aus Kanada und Australien, Andreas aus Hamburg und Andreas aus Freyung. Wir trinken kühles Bier und quatschen über unsere Erlebnisse. Dabei fällt mein Blick auf das linke Sprunggelenk und ich stelle an der Außenseite eine leichte Schwellung fest. Ergebnis: morgen werde ich nur eine kurze Etappe nach Vigo laufen und durch häufigere Pausen den Fuß schonen.

Ben hat sich inzwischen etwas erholt und wir kaufen in einem Supermarkt Brot, Wurst, Käse, Oliven und Obst ein, das wir in der Unterkunft verzehren. Während des Abendessens trudeln gegen 19:45 Uhr endlich auch Lija und Monika völlig fertig ein. Inzwischen sind auch Marja und Sam eingetroffen, die heute viel Zeit an einem Strand verbracht haben. Heute werden wir nichts mehr unternehmen. Etwas mehr Schlaf wird uns nach dem anstrengenden Tag sicherlich gut tun.

 

   

 

Aufgepasst - wo sind die gelben Pfeile?

Sonntag, 18. Juni 2017: Von A Ramallosa nach Vigo

Nach den beiden längeren Etappen soll es heute etwas gemütlicher angegangen werden. Zudem wollen wir der zu erwartenden Hitze entgegenkommen und bereits sehr früh losmarschieren. Dafür haben wir den Wecker auf 5:00 Uhr gestellt. Nach einer sehr gemächlichen Vorbereitungszeit ist es dann doch schon 6:15 Uhr, bis die Lichtverhältnisse es zulassen, mit der Pilgerwanderung zu beginnen. Heute Morgen ist auch der Zeitpunkt gekommen, dass wir uns von Lija und Monika verabschieden müssen. Die beiden haben heute zum dritten Mal hintereinander eine Strecke von deutlich über 30 km vor sich. Da ihr Flug nach Hause für Freitag geplant ist, müssen Sie spätestens am Donnerstag in Santiago ankommen. Das könnte knapp werden. Ben und ich haben uns in einem Hostel in Vigo eingebucht, da es dort keine Pilgerherberge gibt.

Die Schwellung an meinem Fuß ist beinahe vollständig zurückgegangen und ich entscheide mich, zunächst etwas langsamer zu gehen und Ben zu begleiten. Zu Beginn habe ich am linken Sprunggelenk noch einen leichten Druckschmerz, der sich aber im Laufe der ersten vier Kilometer zusehends vermindert. Die an einer Kreuzung vorhandene Sitzbank nutzt Ben aus, um seine erste Pause einzulegen. Ich mache in dem bisher eingeschlagenen Tempo alleine weiter, spätestens im Hostel in Vigo werden wir uns dann wiedersehen. Die Temperatur ist derzeit sehr angenehm und die Sonne hält sich momentan noch bedeckt. Zum ersten Mal sind heute sogar ein paar Wölkchen am Himmel zu sehen. Bis jetzt ist die Streckenführung recht gut zu bewältigen, obwohl sich leichte Bergauf- und Bergab-Passagen abwechseln. Insgesamt bewege ich mich allerdings schon auf einem deutlich höheren Niveau als gestern. Es sollen aber noch ein paar weitere Höhenmeter vor mir liegen.

Bisher bin ich auf Dorfstraßen und durch kleine Ansiedlungen gelaufen, jetzt schließt sich ein etwas längeres Waldstück an. Danach erreiche ich wieder ein kleines Dorf, wo sich die Hähne aus allen Richtungen das Morgenlob zurufen. In einem Ortsteil von Nigrán passiere ich ein Schild mit der Entfernungsangabe nach Santiago: 101 Kilometer. Für mich kommen allerdings noch einige Kilometer dazu, da ich ab Pontevedra auf die Variante Espiritual abzweigen werde. Hinter dem Örtchen muss ich ein richtig steiles Stück erklimmen, wo sich temporär auch noch einmal mein Fuß meldet. Glücklicherweise hört der Schmerz unmittelbar nach der Steigung schon wieder auf. Nur wenige Schritte weiter, mitten im Wald, befindet sich die nächste Hinweistafel, dieses Mal von der Gemeinde Vigo. Es sind jetzt nur noch 100  Kilometer bis Santiago. Na ja, so genau muss man es jetzt nicht nehmen, dass jede Gemeinde ihre Restkilometer bekannt gibt. Dafür stehen doch überall die Monolithen, denen aber oftmals die Plättchen mit den Kilometerangaben fehlen.

Circa einen Kilometer hinter dem Abzweig nach O Freixo verlasse ich den kühlen Wald. Ursprünglich wollte ich dort in der kultigen Herberge übernachten. Antonio, der Hospitalero von A Guarda, hat jedoch jedem seiner Gäste empfohlen, nach O Freixo zu gehen. Allerdings gibt es dort nur vier Betten… Da war mir das Risiko einfach zu groß, eine Absage zu bekommen und somit letztendlich doch nach einem Umweg in Vigo zu landen. Gegen 9:00 Uhr laufe  ich zum ersten Mal für heute in der prallen Sonne und werde diese bis zu meinem Ziel fast immer als Begleiterin haben. Eine Viertelstunde später mache ich in einer Kaffeebar in Freixeiro meine erste Pause. Bis hierhin habe ich rund 12,5 Kilometer hinter mich gebracht. Ben versorge ich unterwegs immer wieder per Handy mit Informationen zur Infrastruktur, damit er abschätzen kann, wie er seine Pausen einlegen könnte.

Die halbe Stunde Rast hat mir gut getan und ich mache mich bestens gelaunt auf die verbleibenden rund zwei Stunden des Weges. Irgendwie riecht es hier in der Luft nach Chlor. Ich vermute, dass das schon die Ausläufer der Industrieanlagen von Vigo sind. Zum Glück zweigt der Weg schon nach wenigen hundert Metern von der belebten Hauptstraße ab und führt mich wieder in eher ländliches Gebiet. Gerade hat mich ein gelbes „X“ vor größerem Schaden bewahrt, denn ich habe 50 Meter vorher einen Abzweig verpasst, weil ich eine Nachricht meiner Frau erhielt. Glücklicherweise geben nicht nur die gelben Pfeile die Richtung an. Die gelben Kreuze sagen dem Pilger eindeutig: „Du bist hier falsch!“. Ich muss auf diesem Abschnitt sehr aufmerksam sein, da ich mich vollumfänglich an der Markierung orientieren muss, weil ich hierfür keine GPS-Daten habe.

 In unmittelbarer Nähe des Stadions komme ich nach Vigo rein. Jetzt quere ich noch einmal beinahe die ganze Stadt, um zu meiner Unterkunft zu gelangen. Obwohl es in der Stadt grüne Lungen gibt, ist Vigo nicht unbedingt die Stadt, in der ich mich lange aufhalten möchte. Das, was ich gesehen habe, ist für mich nicht sonderlich attraktiv. Um kurz vor zwölf Uhr erreiche ich das Hostel, eine gute Viertelstunde nach mir trifft auch Ben ein, der erneut ein Stück mit dem Bus fahren musste.

Unser Zimmer können wir erst um 15:00 Uhr beziehen, dürfen uns aber im Aufenthaltsraum niederlassen. Das nimmt Ben wörtlich und nutzt das Sofa für einen Mittagsschlaf, den er ziemlich nötig hat. In der Zwischenzeit kaufe ich schon einmal für den morgigen Tag Getränke ein. Danach können wir in unser Zimmer und machen uns erst einmal frisch. Wahrscheinlich verkürzen Lija und Monika ihre Etappe und übernachten ebenfalls in Vigo. So klang es jedenfalls eben bei einem Anruf der beiden durch. Lassen wir uns überraschen.

 

   

 

Wohlfühltag bei Marie

Montag, 19. Juni 2017: Von Vigo nach Cesantes

Wir haben uns gestern Abend noch mit Lija und Monika in einer Tapas-Bar getroffen. Sie sind in einem anderen Hostel untergekommen, aber auch nur zehn Minuten Fußweg entfernt von unserem. Ben und ich haben auch noch unsere Betten im Refuxio de la Jerezana in Cesantes per Internet gebucht, da wir nicht wussten, ob wir noch freie Betten bekommen hätten, wenn wir „einfach nur vorbeigekommen wären“. Es sind sehr viele Pilger unterwegs. Ben fährt allerdings mit der Bahn nach Redondela und wird nur die letzten drei Kilometer zu Fuß bis zum Refugio zurücklegen.

In unserem Hostel gibt es keine Fenster, aber eine gut funktionierende Klimaanlage. Diese wird allerdings nur für eine kurze Zeit in den Abendstunden angemacht, damit es in den Zimmern wenigstens zur Schlafenszeit angenehm temperiert ist. Die Temperaturunterschiede habe ich trotzdem gespürt und je nach dem die Decke hochgezogen oder auf die Seite gelegt. Nach einer dennoch guten Nacht schleiche ich mich um kurz vor 7:00 Uhr aus dem Vierbettzimmer und mache mich in der Küche für den Tag fertig. Gegen 7:30 Uhr stehe ich auf der Straße und starte in den Tag. Draußen ist es zum wiederholten Male angenehm kühl. Trotzdem bin ich froh, die Straßenschluchten von Vigo bald verlassen zu können. In Sachen Camino hat Vigo meiner Ansicht nach noch einigen Nachholbedarf. Bis auf die gelben Pfeile gibt es hier kaum  oder gar keine Angebote für Pilger. Ich glaube, ohne Privatinitiative wird sich da auch in naher Zukunft nichts großartig verändern. Bestes Beispiel dafür sind die „Pilgerstempel“, die eigentlich ohne Bezug zum Camino „gestaltet“ sind. Ich lasse mich von einem vielversprechenden Hinweisschild einer Bar verleiten, bekomme dann aber „nur“ einen Firmenstempel, zwar mit Logo, aber keine Spur von einer Jakobsmuschel oder Ähnlichem. O.K., die Pilgerstempel sind nicht das Essentielle einer Pilgerreise.

Schon seit einiger Zeit wandele ich auf einer höheren Ebene und habe einen wunderschönen Blick auf die Ria de Vigo, die momentan noch von einer dicken Nebelschicht bedeckt ist. Interessantes Naturschauspiel, denn bei zunehmender Sonneneinwirkung verschwindet allmählich der Nebel und der Blick auf die Wasseroberfläche wird freigegeben. Ich gehe auf schmalen Straßen, die mit einer gelben Schlangenlinie und grünem Untergrund versehen sind, der sogenannten Senda do Auga. Es handelt sich dabei um einen Wanderweg zum Thema Wasser. Zwischendurch sind immer wieder Hinweistafeln zu bestimmten Wissensgebieten aufgestellt. Es ist hier außerdem nicht ganz ungefährlich, denn auf beiden Straßenseiten gibt es eigentlich keine Ausweichmöglichkeiten, wenn sich hier einmal zwei Autos begegnen sollten.

Die heutige Etappe lässt sich relativ bequem laufen, da sie hinter Vigo keine nennenswerten Höhenunterschiede mehr aufweist. Ich umlaufe im Prinzip die Ria de Vigo und befinde mich nun auf asphaltierten oder geschotterten Waldwegen. Durch die schützenden Bäume bin ich nicht der direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt. Auf der Ria de Vigo sieht man unzählige plattformartige Gebilde, die von kleinen Kuttern angefahren werden. Ich vermute mal, dass es sich hierbei um Zuchtanlagen für Austern oder Muscheln handelt. Endlich passiere ich die schon seit einiger Zeit vor mir sichtbare Ponte de Vigo, auf der momentan in schwindelnder Höhe Bauarbeiten durchgeführt werden. Im Vorbeilaufen geht mir das  Instrumental „Wild Theme“ von Mark Knopfler (Dire Straits) nicht mehr aus dem Kopf heraus. Zunächst pfeife ich es fröhlich vor mich hin, doch dann passiert etwas Unglaubliches mit mir. Ich erreiche ein lichtes Waldstück mit Blick auf die Ria, stehe dort auf einem Felsen und kann auf der gegenüberliegenden Seite schon mein Tagesziel Cesantes erkennen. Es überkommt mich das Bedürfnis, mein Handy herauszuholen und das Stück anzuhören. Warum? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ist jetzt der Moment da, wo dem Pilger zum zweiten Mal die Tränen kommen.

Ich genieße diesen stillen Moment und schaue einfach nur in die Ferne, in die ich mich in den nächsten Tagen noch begeben werde. Vielleicht passt „Wild Theme“ auch ganz gut zu der Umgebung hier. Ich bin mitten in einer schönen Landschaft, Wasser plätschert, Blätter rauschen, Vögel zwitschern und Hunde bellen. Ich bin in diesem Moment sehr dankbar, dass ich das erleben darf. Vor allem bin ich meiner Familie dankbar, dass sie mich wieder hat ziehen lassen. Hier ist für mich nun auch der Augenblick gekommen, wo ich einen meiner beiden mitgebrachten Steine weit wegwerfe. Er fliegt steil nach oben und folgt dann unumgänglich den Kräften der Erde abwärts. Dann ist er im Abhang vor mir meinem Blick entschwunden. Meine schwermütigen Schritte werden nach diesem emotionalen Feuerwerk nun wieder etwas beschwingter, denn ich freue mich jetzt auf die Ankunft in Maries Herberge in Cesantes. Ich bin gespannt, was sich gegenüber meinem letzten Besuch vor ziemlich genau zwei Jahren alles verändert hat.

Um 11:30 Uhr treffe ich in Redondela ein, wo sich der Camino da Costa mit dem Camino Central vereinigt. Ich lege noch eine letzte Pause in einem Restaurant in der unmittelbaren Nähe der öffentlichen Herberge ein und versuche mir eine Kleinigkeit zu essen zu besorgen. Leider ist das erst in einer Stunde möglich, also bleibt es bei einem Bier und dem dazu gereichten Snack. Eine halbe Stunde später breche ich wieder auf und zähle rund zwanzig Pilger, die auf Einlass in die Herberge warten. Auf meinem Weg aus Redondela heraus blinzelt mir aus einer Seitengasse ein  Kirchturm zu. Neugierig gehe ich zur Kirche und sie steht glücklicherweise offen, es ist zudem zufälligerweise die Igrexa de Santiago de Redondela. Drinnen ertönt meditative Musik, die mich berührt. Ich setze mich eine Weile hin und genieße die sanfte Atmosphäre. Ich lasse mich ein klein wenig fallen und spreche ein Dankgebet. Als ich die Kirche verlassen möchte, spricht mich eine Nonne an, ob ich einen Pilgerstempel haben wolle. Ich folge ihr in die Sakristei und erhalte endlich wieder einmal einen schön gestalteten  Stempel. Wir kommen sogar ins Gespräch, sie auf Spanisch, ich mit Händen, Füßen und meinen paar Brocken Spanisch. Und wir verstehen uns, es ist unglaublich! Ich bedanke mich ganz herzlich für diese Begegnung und verlasse mit einem Lächeln die Kirche.

Die letzten drei Kilometer des Tages bis zur Herberge lege ich gemütlich zurück. Über mir zieht sich allmählich der Himmel zusammen, es ist kaum noch Blaues zu sehen. Um 13:00 Uhr bin ich schließlich da und belege schon einmal ein Bett. Ich lerne Jessy und ihren Vater Arndt aus Köln kennen und wir tauschen uns über den bisherigen Weg aus. Dann trifft auch Ben ein, der in Redondela doch tatsächlich noch einmal Lija und Monika getroffen hat, die dort übernachten werden. Sie wollen nun solange weitergehen und erst zum Schluss mit dem Bus nach Santiago fahren. Etwas später erscheint auch Marie und ist der festen Überzeugung, mich zu kennen. Ich gestehe ihr, dass ich so ziemlich genau vor zwei Jahren, am 23. Juni 2015, schon einmal hier gewesen bin, damals mit Jörg. Inzwischen hat sich hier einiges geändert, die Grünanlagen sind deutlich mehr geworden, Hinweisschilder prangen an der Hauswand und die Bibliothek wurde zum zweiten Speisesaal umfunktioniert. Darüber hinaus gibt es jetzt auch noch ein paar Zusatzbetten und ein paar Matratzen für Notfälle. Das allerschönste verrät uns Marie zum Schluss: sie ist inzwischen stolze Mama eines elf Monate alten Sohnes, den wir beim Abendessen auf der Terrasse noch kennenlernen. Nach dem Essen ziehen sich Ben, Jessy und Arndt zurück und ich unterhalte mich noch mit Erich aus der Pfalz über Wunder auf dem Camino. Bevor die Augen zugemacht werden, heißt es Abschied nehmen von Ben. Wir beide haben uns die vergangene Woche täglich gesehen und auch sehr gut verstanden. Es war mir eine Freude, ihn kennengelernt zu haben. Vielleicht sehen wir uns ja noch einmal in dieser Woche, wer weiß.

Für mich ist das Refuxio de la Jerezana eine Oase der Herzlichkeit, wo du dich in liebevoller Umgebung von den Strapazen der vergangenen Tage erholen kannst. Wer sich auf den Camino Português begibt, sollte unbedingt die drei Kilometer von Redondela zusätzlich auf sich nehmen und hier nächtigen.

 

   

 

Wieso eigentlich Espiritual?

Dienstag, 20. Juni 2017: Von Cesantes nach A Armenteira

Für 5:30 Uhr habe ich meinen Wecker gestellt, aber meine innere Uhr hat mich bereits eine gute Viertelstunde vorher wach werden lassen. Ich schaffe möglichst geräuschlos meine Ausrüstung in einen der beiden Speisesäle, schließe die Türe und beginne, mich für den Abmarsch fertig zu machen. Kurz darauf ertönt ein anderer, unangenehmer Wecker, der gefühlt unendlich lang seiner Tätigkeit nachgeht. Danach beginnt ein Schauspiel, das seinesgleichen sucht. Nacheinander erscheinen sechs schlaftrunkene spanische Pilger, die ebenfalls ihre sieben Sachen zusammenpacken, das aber mit einer Lautstärke, die unter aller Kanone ist. Sie halten es nicht für nötig, ihre angeregten Gespräche so zu dämpfen, dass die noch schlafenden Pilger nicht gestört werden.

Während ich mich in dem anderen Speisezimmer an den  Frühstückstisch setze und einen Eintrag ins Gästebuch schreibe, wird die Tür aufgerissen und die Spanier stürzen herein. Sie sind noch immer nicht in der Lage, Rücksicht auf die anderen zu nehmen und lassen zudem noch die Türe zum Schlafsaal weit offen. Ich kann nur den Kopf schütteln und schäme mich fast für sie. Ich habe genug davon und schließe jetzt selbst die Tür. Als dann ein weiterer Spanier den Raum betritt und wieder die Türe offen lässt, schließe ich sie zum zweiten Mal und werfe den Herrschaften einen bösen Blick zu. Ich glaube, jetzt haben sie endlich verstanden, dass sie nicht alleine hier sind.

In der Zwischenzeit ist auch Ben aufgestanden und hat sich fertig gemacht. Wir starten nach dem Frühstück gemeinsam gegen 6:15 Uhr in die Dunkelheit. Es dauert aber nur einige wenige hundert Meter, bis die Morgendämmerung beginnt, so dass wir keine zusätzliche Beleuchtung benötigen. Auf der Strecke sind schon einige Pilger unterwegs, die wir überholen. Mitten im Wald treffen wir auf eine Verpflegungsstelle, von der sich gerade circa zwanzig Engländerinnen mit Tagesrucksäcken aufmachen. Auf diesem ersten Streckenabschnitt haben wir schon einige Höhenmeter zu absolvieren. Durch unser intensives Gespräch vergeht die Zeit aber wie im Fluge und wir nehmen die Strapazen gar nicht richtig wahr.

Der von Ben anvisierte Kiosk für seine erste Pause scheint nicht zu existieren oder die Strecke wurde inzwischen verlegt. So dauert es bis zu dem kleinen Örtchen O Pombal, wo wir einen Hinweis auf eine Bar finden. Wir folgen dem Tipp und sind erfreut, dass tatsächlich geöffnet ist. Davor hat sich bereits eine Gruppe von Pilgerinnen breitgemacht. Nach einem großen Café con leche verabschiede ich mich dann endgültig von Ben. Es war gut, dass ich die ersten 12,5 km in seinem Tempo mitgelaufen bin, denn ich habe jetzt noch 21 km mit einigen Höhenmetern vor mir. Schade, dass sich nun unsere Wege trennen.

Ich marschiere zunächst wieder zurück auf den Camino und hole mir in der Capilla Santa Marta noch einen Stempel ab. Dann laufe ich entlang der Straße bis zu einer Abzweigung, an der man nicht so genau weiß, wo man hergehen soll. Die Markierungen führen sowohl geradeaus als auch nach links zu dem kleinen Rio Tomesa. Ein Blick auf meine Karte zeigt mir, dass die Route am Rio sicherlich angenehmer ist als die von Jörg und mir vor zwei Jahren genutzte Straße. Nach nur wenigen Schritten stelle ich zudem fest, dass es hier auch gelbe Pfeile gibt und folge ihnen einfach. Allerdings sind die meisten schwarz übermalt - man möchte also nicht, dass hier entlanggelaufen wird. Ich verstehe das nicht, denn dieser schattige Abschnitt gleicht einem naturbelassenen Biotop und lässt sich deutlich besser durchwandern als am Rand der lauten Straße.

Um 10:35 Uhr laufe ich in Pontevedra unmittelbar an der Pilgerherberge ein und begebe mich direkt zur Capela da Virxe Peregrina de Pontevedra, die auf einem Grundriss einer Jakobsmuschel errichtet wurde. Auf meinem Weg aus der Stadt heraus hänge ich mich an eine Touristengruppe und besuche die Igrexa de San Francisco sowie später noch die Real Basílica de Santa María la Major. In einem Supermarkt kaufe ich mir etwas zu essen und vor allem Getränke. Zwischendurch erreicht mich eine Nachricht von Ben, der zusammen mit Lija und Monika auf die Öffnung der Herberge in Pontevedra wartet. Die drei haben sich also doch noch einmal getroffen.

Erst um die Mittagszeit starte ich endlich zur Variante Espiritual. Um dorthin zu gelangen, habe ich eine Abkürzung gewählt. Ansonsten hätte ich noch einige Kilometer aus Pontevedra zum originären Abzweig von der Hauptroute herauslaufen müssen. Bis ich wieder Markierungen entdecke, dauert es rund fünf wellige Kilometer, und das überwiegend in der prallen Sonne. Ich versuche jedes kleine bisschen Schatten auszunutzen, das mir geboten wird. Am Monasterio de San Juan de Poyo will ich eigentlich meine nächste Pause einlegen, entscheide mich aber lieber für eine Kirchenbesichtigung. Ich rutsche eine Viertelstunde vor Schließung gerade so hinein und kann deshalb nur eine gehetzte Besichtigung von Klosterkirche und den beiden Kreuzgängen absolvieren. Der ältere Kreuzgang zeigt in kunstvoller Mosaiktechnik sämtliche Örtlichkeiten des Camino Frances sowie dessen Geschichten aus der Vergangenheit.

Erst nach der Besichtigung setze ich mich unter einen schattigen Baum und verzehre meine Vesper. Dann geht es weiter über Combarro und anschließend wieder hinauf in die Höhe. An einer Apotheke leuchtet mir in grünen Punkten die aktuelle Temperatur entgegen: 33 Grad. Ich befinde mich fast auf der Höhe des Meeresspiegels, doch auf dem folgenden Abschnitt überwinde ich auf kürzester Distanz einen Unterschied von rund zweihundert Metern. Ich bin natürlich so schlau und nutze zwei Abkürzungen, um Wegstrecke einzusparen. Einen entscheidenden Nachteil habe ich außer Acht gelassen: diese Abkürzungen sind wesentlich steiler und damit schweißtreibender als der reguläre Weg.

Meine nächste Pause lege ich gegen 15:00 Uhr auf einer Höhe von 220 Metern unter einem schattigen Baum am Straßenrand ein. Es fehlen bis zum höchsten Punkt des heutigen Tages aber noch immer zweihundert weitere Höhenmeter. Die Bezeichnung Variante Espiritual erscheint mir momentan sehr fragwürdig, die derzeitige Streckenführung gleicht eher einem Büßerweg, und mir fällt gerade gar nichts ein, wofür ich Buße tun soll. Die nächste Kurve bietet daraufhin, wie bestellt, eine Aussichtsplattform mit einem traumhaften Blick hinunter in die Bucht Ría de Pontevedra. Eine Hinweistafel bestätigt meine Vermutung, dass es bis zur Herberge noch rund fünf Kilometer sind. Trotzdem laufe ich immer noch mitten durch die Sonne. Ich habe bereits fünf Liter Flüssigkeit zu mir genommen und genehmige mir jetzt noch meine letzte Zuckerreserve, eine Flasche Cola.

Endlich geht es wieder abwärts und ich erreiche gegen 16:30 Uhr das Monasterio de Armenteira. Ein paar Minuten später treffe ich in der circa einen Kilometer entfernten Herberge ein und bin nur noch müde. Es sind schon einige Pilger da, die sich in dem durch eine dünne Wand zweigeteilten Schlafraum breitgemacht haben. Ich schätze, dass hier rund dreißig Pilger aufgenommen werden können. Die Herkunft der Gäste ist heute wiederum sehr international und ich habe noch niemanden von ihnen auf meinem bisherigen Weg getroffen: Rumänen, Italiener, Portugiesen, Niederländer, Amerikaner, Franzosen, Kanadier und Briten. Nach der erfrischenden Dusche habe ich zwar Hunger, aber kein Bedürfnis mehr, in Richtung Kloster zu einem der beiden Restaurants zurückzugehen. Zum Glück gibt es in der Herberge einen Automaten mit gekühlten Getränken, Snacks und Fertiggerichten. Ich ergattere das letzte Risotto, schiebe es in die Mikrowelle und leere ein paar Dosen Cola und Wasser. Leider wird kein Bier im Automaten angeboten, da hätte ich jetzt noch Lust drauf.

Morgen ist geplant, mit dem Boot von Vilanova de Arousa nach Pontecesures zu fahren und anschließend noch zum Kloster Herbón zu pilgern. Trotz aller Bemühungen gelingt es einem amerikanischen Paar und mir nicht, Informationen zum Bootstransfer zu bekommen. Ich lass mich einfach überraschen. Es war bisher der anstrengendste Tag auf dem Camino und ich mir fallen beinahe die Augen zu. Also mache ich mich schon früh bettfein.

 

   

 

Pläne muss man auch ändern können

Mittwoch, 21. Juni 2017: Von A Armenteira nach Vilanova de Arousa

5:00 Uhr aufstehen, 6:00 Uhr Abmarsch. Draußen ist es noch kühl und es herrscht eine gespenstige Stille. Es ist noch so dunkel, dass ich kaum die Hand vor den eigenen Augen sehe. Ich biege hinter einer kleinen Brücke nach rechts auf die Ruta de la Piedra y del Agua (Weg der Steine und des Wassers) ein und knipse meine kleine LED-Lampe an, damit ich vor mir überhaupt etwas erkenne. Der Camino führt entlang des Rio Armenteira und ist im ersten Teilstück mit vielen Felsen und Wurzelwerk auf dem Boden versehen. Ich komme hier nur sehr langsam vorwärts, sonst ist die Gefahr groß, bei den schlechten Sichtverhältnissen zu stürzen.. Entlang des Rio befinden sich unzählige kleine Mühlen, in denen meistens noch die Mahlsteine vorhanden sind. Leider bekomme ich davon nur schemenhaft etwas mit. Nach circa zwanzig Minuten beginnt dann endlich die Dämmerung und ich kann meine Leuchte wieder ausschalten. Schade, dass ich von diesem romantischen Teil nicht alles mitbekommen habe. In einem Flyer wird von dem Abschnitt in höchsten Tönen geschwärmt. Die Ruta endet schließlich nach knapp fünf Kilometern, für die ich knapp neunzig Minuten benötigt habe.

Es lässt sich noch immer recht angenehmen gehen, die Temperaturen sind im Vergleich zu gestern mit gerade einmal 18 Grad deutlich geringer. Um mich herum ist zum Teil dichter Nebel und von einem blauen Himmel bin ich aktuell meilenweit entfernt. Zudem legt sich aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit eine gewisse Schwüle über die Landschaft, die sich durch kleine Wasserbläschen auf meiner Haut und der Kleidung niederlassen. Ich werde weiterhin vom Rio Armenteira begleitet und verlasse diesen erst, als er in den Rio Umia mündet. Hier ist es wieder etwas ruhiger, denn ich konnte ebenfalls die zuletzt parallel verlaufende Straße mit der dazu gehörigen Geräuschkulisse hinter mir lassen. Jetzt bin ich wieder mitten in der Natur, es sind lediglich für mich nicht sichtbare Vögel zu hören und manchmal hüpft vor mir ein kleiner Frosch über den Weg. Erstmals laufe ich an ausgedehnten Weinanbauflächen vorbei. Bisher habe ich nur vereinzelte Reihen gesehen.

Der Rio Umia ist im weiteren Verlauf ein Gewässer, das sich selbst überlassen worden ist. So ist es auch zu verstehen, dass hier eine entsprechende Artenvielfalt vorherrscht. An einer Stelle steht voller Stolz eine Gans am Ufer und lauscht dem Konzert der Tierwelt. Auf meinem Weg entlang des Flusses ist ordentlich Bewegung und ich muss ständig aufpassen, dass ich nicht über Schnecken jeglicher Größe, mal mit Haus, mal ohne Haus, stolpere. Nach dieser Naturidylle am Fluss habe ich danach wieder das Vergnügen, in urbanem Gelände und an einer Straße entlangzulaufen. Ich kann es allerdings nicht verstehen, warum man nach Verlassen des Flusses über eine Brücke durch Ponte Arnelas geschickt wird, dort eine Schleife dreht, und schließlich 300 m von der Flussüberquerung entfernt herauskommt. Es ist wohl die mittelalterliche Brücke, die Aufmerksamkeit erzielen soll.

Während ich auf Dorfstraßen und durch kleinere Ansiedlungen gehe, verdichtet sich der Nebel immer mehr und es fröstelt mich sogar ein wenig. Ich halte mal Ausschau nach einer Einkehrmöglichkeit, um zwischendurch etwas Warmes zu mir zu nehmen. Nach einem kurzen Anstieg laufe ich an einem Weingut vorbei in einen Wald hinein. Eigentlich kann man im Umkreis von 100 Metern überhaupt nichts mehr erkennen,  weil der Nebel die Landschaft einhüllt. Dann erreiche ich einen Vorort von Vilanova de Arousa und bestelle mir in einer Bar ein leckeres Boccadillo mit Schinken und Käse und einen Café con leche. Eine Viertelstunde später mache ich mich auf das letzte Stück Weg und finde, dass es inzwischen doch wärmer geworden ist. Der Nebel verzieht sich auch allmählich nach oben. 

Ich nähere mich wieder dem Meer mit seiner typischen Duftnote. Die letzten Kilometer laufe ich in der Nähe eines Strandes entlang, teilweise auch auf sandigen Passagen und gelange zur Fußgängerbrücke nach Vilanova de Arousa. Um 11:30 Uhr bin ich in der Herberge und überrumpele den Hospitalero Emilio bei seinem Mittagessen. Er weist mich etwas angespannt darauf hin, dass noch nichts sauber gemacht wäre und die Herberge ja auch erst um 13:00 Uhr öffne. Mir würden jetzt allerdings nur ein paar Infos zur Passage nach Pontesecures ausreichen. Und diese Infos erhalte ich auch prompt: das nächste Boot fährt erst morgen um 11:00 Uhr. Das bedeutet für mich, ich muss, entgegen meinem Plan, die Nacht hier verbringen und verliere dadurch einen ganzen Tag. Damit hat sich auch der Abstecher nach Fisterra erledigt, da mein Rückflug schon am Samstag sein wird. Emilio unterbricht seine Mahlzeit für mich, obwohl ich versuche ihm klarzumachen, dass ich zur Öffnungszeit wieder kommen würde. Ich habe keine Chance. Er notiert meine Personalien, verkauft mir ein Ticket für das Boot und zeigt mir die Herberge. Erst dann wendet er sich wieder seinem Essen zu. Danke, Emilio!

Ich bin natürlich der Erste in der Herberge, obwohl dort schon einige Betten mit Schlafsäcken und Rucksäcken belegt und zehn Betten für eine italienische Gruppe reserviert sind (die dann sehr rücksichtsvoll am Spätnachmittag eintrifft). Ich werde zunächst etwas einkaufen gehen und dann einfach mal schauen, was der Tag so mit sich bringt. Vor 13:00 Uhr werde ich in der Herberge jedenfalls nicht mehr erscheinen, damit Emilio in Ruhe seine Arbeit machen kann. Nach und nach trudeln weitere Pilger von gestern ein: Daniel aus Rumänien, Gerda und Josephina aus den Niederlanden, Cheryl aus den USA, Philino aus Italien, Alain aus Frankreich, John und Henry aus Kanada, Yoshika aus Japan, die beiden Portugiesinnen, Andreas aus Hamburg (zuletzt haben wir uns in A Ramallosa gesehen) sowie Ruth und Christian aus Bremen. Zudem treffe ich David aus Barbados, der hier allerdings nur einen Kurzbesuch abstattet.

Es wird ein fauler Tag. Aus dem Supermarkt habe ich mir etwas für das Abendessen besorgt. Ansonsten lege ich mich in mein Bett und ruhe mich etwas aus. Am Abend findet über unserem Schlafsaal noch ein Zumbakurs statt und in der Sporthalle treten zwei Herren-Mannschaft zu einer Partie Fußball an. Zum Glück hält sich der Lärm in Grenzen und ich falle langsam in einen tiefen Schlaf.

 

   

 

Wasserstraße und dann rote Pfeile

Donnerstag, 22. Juni 2017: Von Vilanova de Arousa nach Herbón

Heute wird es ein richtig bequemer Tag werden. Ich habe bis um 7:30 Uhr geschlafen, dann begannen auch erst die anderen Übernachtungsgäste allmählich mit ihren Vorbereitungen für den heutigen Tag. Da unser Boot erst gegen 11:00 Uhr ablegen wird, verbleibt noch unheimlich viel Zeit, die es zu vertreiben gilt. Eigentlich habe ich nichts Konkretes vor und gammele vor mich hin. Ich kann mich lediglich zu einem weiteren Einkauf im Supermarkt hinreißen, wo ich mir noch ein Baguette und etwas Obst besorge.

Als ich gegen 10:00 Uhr die Herberge verlasse, herrscht gerade Ebbe und der Hafen ist übersät mit kleinen Booten, auf denen Fischer mit langen Stangen den Boden nach Muscheln absuchen. Treffpunkt für die Bootspilger ist ein Anleger am Hafen. Kurz vor der vereinbarten Zeit biegt ein etwas größeres Schlauchboot um die Ecke. Insgesamt steigen 22 Pilger samt Gepäck ein und es geht pünktlich los. Für zehn Personen gibt es Plätze auf Bänken, der Rest muss sich auf dem Bootsrand niederlassen. Der Bootsführer hält manchmal und gibt erklärende Kommentare, jedoch leider nur auf Spanisch. Das, was ich verstehen konnte, waren Hinweise auf die Muschel- und Austernbänke, auf am Rande des Flusses stehende Cruzeiros sowie eine Ruine, die wohl in früheren Zeiten als Wachtturm diente. Nach ziemlich genau einer Stunde Fahrt sind die achtundzwanzig Kilometer absolviert und wir gehen in Pontecesures an Land.

Während die anderen Passagiere sich noch nicht schlüssig sind, ob sie zuerst einen Kaffee trinken oder nach Padrón gehen sollen, begebe ich mich auf die heute sehr anspruchsvolle Wanderstrecke von 3,5 Kilometern. Der Weg zum Kloster Herbón ist mit roten Pfeilen markiert, gegen 13:00 Uhr treffe ich schließlich dort ein. Die Herberge öffnet aber erst um 16:00 Uhr. Die Wartezeit wird mir durch das ständige Eintreffen von weiteren Pilgern verkürzt. Zunächst ist Oliver aus Pforzheim vor Ort, ein Portugiese, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Er holt sich zunächst seinen Pilgerstempel an der Klosterpforte und anschließend noch ein paar Santiago-Tipps bei mir ab. Als nächstes trudeln Yoshika, Tina und Linny (die ich zuletzt in Viano do Castelo gesehen hatte), Hanna aus Leipzig und Vanessa aus Mainz ein. Dazu gesellen sich zwei Österreicher aus Wien, Peter aus der Eifel und die laute Horde Spanier aus Cesantes.

Gegen 15:30 Uhr will Hospitalero Pedro eigentlich nur den an der Tür angehängten Brotbeutel holen, bittet uns dann freundlicherweise schon herein. Bei der Aufnahme teilt uns gleich das Abendprogramm mit: 18:00 Uhr Rundgang durch das Kloster, 20:00 Uhr Gottesdienst, 20:30 Uhr gemeinsames Abendessen. Erst seit kurzem sind die Gäste in kleinen Zellen in einem Gang hinter der Küche untergebracht. Jede Zelle hat gerade einmal Platz für ein Doppelstockbett und zwei Stühle und wird durch einen Vorhang vom Flur getrennt. Ich beziehe meine Kammer und mache mich frisch für den Abend. Dann trete ich gegen 17:00 Uhr durch die Küchentür nach draußen und erlebe eine schöne Überraschung. Vor mir steht Ben! Wir fallen uns voller Freude zur Begrüßung in die Arme. Wir haben uns einiges zu berichten. Er erzählt mir, dass er mit Lija und Monika noch bis Caldas de Reis gelaufen ist und dort auch übernachtet hat. Am nächsten Tag hat er die beiden zum Bus nach Santiago gebracht.

Dann wird es Zeit für den Klosterrundgang. Ein Pater führt uns durch die Kirche, die Sakristei, das ehemalige Refektorium und den Kreuzgang. Er erklärt uns alles auf Spanisch – welch ein Wunder! Doch wir haben großes Glück. Hanna, die einige Zeit in Südamerika gelebt hat, übersetzt für uns. Dann übernimmt eine Amerikanerin, die mit einem Spanier verheiratet ist. So bleibt nicht alles von der Klostergeschichte im Dunkeln verborgen. In dem kleinen Verkaufsraum erstehe ich noch einen Tau-Anhänger und ein Glas Mermelada Picante de Pimientos de Herbón. Nach dem Gottesdienst mit Pilgersegen treffen wir uns in der Küche zum Abendessen - es gibt einen leckeren Linseneintopf. Der Abwasch ist anschließend dank der vielen helfenden Hände innerhalb von einer Viertelstunde erledigt, und das bei Geschirr, Besteck und Gläsern für rund zwanzig Personen. Überrascht haben mich dabei die Spanier, die ein ganze anderes Verhalten an den Tag legten als noch vor wenigen Tagen in Cesantes.

Morgen ist es dann endlich soweit: die letzten 26 Kilometer des Camino Português da Costa stehen an und damit verbunden auch zum dritten Mal mein Einzug in Santiago. Ich freue mich.

 

   

 

Geschichten, die nur der Camino schreibt

Freitag, 23. Juni 2017: Von Herbón nach Santiago de Compostela

Ich bereue es in keinerlei Weise, am gestrigen Tage nur so wenig unterwegs gewesen zu sein, nur um in den Genuss zu kommen, im Kloster Herbón zu übernachten. Diese Pilgerherberge ist ein weiteres Rückzugsparadies, in der man von Hospitalero Pedro liebevoll umsorgt wird und sich noch einmal einen Tag vor der Ankunft in Santiago sammeln kann. Bevor ich mich am gestrigen Abend bettfertig gemacht hatte, ereignete sich noch eine schöne Begebenheit. Der damalige Hospitalero der Herberge in Betanzos am Camino Inglés, Fernando, verfolgt aufmerksam meinen Blog und kommentiert hin und wieder auch einmal auf Facebook. Sein letzter Eintrag vor wenigen Minuten lautete: „Hey!! Linny is there too!! Eine große Umarmung für beide. The way is almost done.“ Mit dem Namen konnte ich zunächst nichts anfangen, schaute mir seine Freundesliste an, dann entdeckte ich unsere Mitpilgerin aus Frankfurt. Die Welt ist so klein. 

Nach dem Wecken zeige ich Linny die Nachricht und auch sie ist sehr überrascht. Wir machen spontan ein Foto am Frühstückstisch und antworten damit auf Fernandos Post. Zufall? Nein: nur eine weitere Geschichte vom Camino. Nach dem üppigen Frühstück mache ich mich fertig, verabschiede mich von Pedro - jeder bekommt von ihm eine herzliche Umarmung - und den verbliebenen Pilgern. Dazu gehört auch Ben, der heute nur bis Teo gehen wird und erst morgen in Santiago eintreffen wird. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft wir uns jetzt schon Lebewohl gesagt haben. Nachdem ich meinen Obolus für die Verpflegung im Spendenkästchen hinterlegt habe, verlasse ich um 7:00 Uhr die Herberge.

Zunächst laufe ich alleine nach Padrón und kehre dort in der Kult-Cafeteria Don Pepe 2 ein, um einen Kaffee und ein Stück  Tarta de Santiago zu mir zu nehmen. Hier war ich bereits vor zwei Jahren und mir ist die herzliche Verabschiedung von Pepe beim Verlassen des Cafes in Erinnerung geblieben. Auch heute werde ich mit einem Drücker und einem „Buen Camino“ auf den Weg geschickt. Nur wenige Schritte weiter macht sich gerade in einer anderen Bar eine vierköpfige Pilgergruppe auf den Weg, unter denen ich Oliver entdecke. Die nächsten fünf Kilometer laufen wir nebeneinander her und unterhalten uns sehr nett. Er wird auf meinen Tipp hin heute Abend auch im Seminario Menor übernachten. Schließlich laufen wir auf Peter auf, der gestern auch in Herbón unter den Gästen weilte. Oliver wendet sich wieder seinen Begleitern zu, die etwas schneller vorankommen wollen und ich schließe mich Peter an. Er möchte eigentlich nur noch ein paar Kilometer weiterlaufen und dann mit Bus oder Bahn nach Santiago fahren. Es gelingt uns aber nicht, einen passenden Zug an einem Bahnhof oder alternativ eine Bushaltestelle zu finden.

Nach zwei kürzeren Pausen im Restaurante Gallego und der Bar Descanso do Peregrinos kurz hinter dem Sägewerk fühlt sich Peter noch stark genug, auch die letzten Kilometer zu bewältigen. Peter hat noch keine Unterkunft in Santiago und das Seminario Menor scheint ausgebucht zu sein. Ich versuche zwar, noch telefonisch Kontakt herzustellen, was mir aber nicht gelingt. Erst als wir kurz vor der Altstadt von Santiago sind, wird mir so richtig bewusst, dass der Pilgerweg für dieses Jahr gleich zu Ende sein wird. Und schon werden die Augen feucht und Tränen kullern die Wangen herunter.  Schließlich erreichen wir kurz vor 15:00 Uhr nach fast dreißig Kilometern die Praza do Obradoiro. Obwohl ich heute zum dritten Mal Santiago erreiche, ist es nicht weniger emotional wie in den beiden Vorjahren. Es ist anders, ja. Aber trotzdem wunderschön!

Als wir dann tatsächlich vor der Kathedrale stehen, ziehe ich meinen Rucksack von der Schulter und setze mich stumm auf den Boden. Peter lässt mir diesen und nimmt dann aus der Entfernung wieder Blickkontakt mit mir auf. Ich brauche einige Minuten, um wieder Fassung zu kommen. Dann nehme ich ihn in den Arm und beglückwünsche ihn zu seiner ersten Ankunft in Santiago. Er hat mit der langen Etappe für seine fast siebzig Lebensjahre eine tolle Leistung vollbracht. Kurz darauf laufen mir Jessy und Arndt fast in die Arme, und auch wir beglückwünschen uns gegenseitig zum erfolgreichen Abschluss der Pilgerfahrt. Dann wird es Zeit, für Peter ein Dach über dem Kopf zu besorgen. Ich unterstütze ihn noch bei der Buchung einer Unterkunft in der Hospedería San Martín Pinario und gehe anschließend ins Pilgerzentrum, um meine Compostela in Empfang zu nehmen. Das dauert heute fast neunzig Minuten, in denen ich mit zwei Damen aus Münster ins Gespräch komme. Danach mache ich mich auf ins Seminario Menor, um meine Unterkunft zu beziehen.

Dann passiert erneut etwas Unvorhergesehenes. Ich bin gerade auf dem Weg ins Kellergeschoss meiner Herberge, da begegnet mir ein Pilger. Ich höre nur noch: „Heißt du zufällig Wolfgang?“ Ich drehe mich zu ihm um, und wen sehe ich vor mir? Jürgen aus unserem Koblenzer Pilgerforum. Er ist im Mai auf den Camino Frances aufgebrochen und heute, so wie ich, in Santiago angekommen. Er wohnt ebenfalls hier im Haus, und das nur ein Zimmer neben mir. Morgen fliegen wir mit der gleichen Maschine zurück zum Flughafen Hahn. Zufall? Nein, Camino!

Wir fallen uns in die Arme und drücken uns ganz fest. Mit dieser Begegnung in einem Treppenhaus hätte wohl keiner von uns beiden gerechnet. Es dauert eine Weile, bis wir das realisieren können, und beginnen dann laut zu lachen. Wir setzen und auf die Stufen und erzählen wild drauf los. Als wir uns wieder trennen, höre ich Jürgen im Treppenhaus laut murmeln: „Das gibt´s doch nicht! Das gibt´s doch nicht!“

Für den Abend habe ich mich mit Peter vor seinem Hotel verabredet. Wir besuchen gemeinsam den abendlichen Pilgergottesdienst. Auf dem Weg zur Kathedrale treffe ich zunächst Vanessa und Hanna, danach Linny und Tina und in der Nähe des Eingangs auch noch Ruth und Christian. Und an seinem Stammplatz in der Nähe des Nordportals der Kathedrale spielt gerade mein liebster Straßenmusiker in Santiago, Javier Pavo. Heute kaufe ich ihm eine CD ab. Das wollte ich eigentlich schon vor zwei Jahren gemacht haben.

Zum Abschluss des Gottesdienstes wird natürlich der Botafumero geschwenkt - wie eigentlich jedes Mal, wenn ich anwesend bin. Nach der Messe treffe ich vor der Kathedrale auch noch Shelley und Daniel, mit denen ich mich noch austausche, während Peter mit seiner Familie telefoniert. Wir gehen zum Abschluss des Tages noch eine Kleinigkeit essen (ich bestelle mir die langersehnte Portion Pulpo) und danach begleite ich Peter zu seinem Hotel. Ich drehe noch eine kleine Runde durch das inzwischen dunkle Santiago und finde überfüllte Gassen vor, denn heute wird das Johannisfest gefeiert. Auf allen Plätzen der Stadt pulsiert das Leben, es spielen Musiker auf und es riecht nach gebratener Chorizo und gegrillten Sardinen. Da meine Herberge heute um 0:30 Uhr ihre Pforte schließt, muss ich jetzt zusehen, dass ich in mein Zimmer gelange.

 

   

 

Mit Verspätung zurück ins normale Leben

Samstag, 24. Juni 2017: Von Santiago de Compostela nach Koblenz

Für heute habe ich mir nicht allzu viel vorgenommen. Ich treffe mich mit Peter um 7:45 Uhr vor der Kathedrale und wir nehmen am deutschsprachigen Gottesdienst teil. Diesen hält wie im vergangenen Jahr, Pfarrer Wolfgang Gramer aus Bietigheim-Bissingen. Er spricht heute über Johannes den Täufer und spendet allen, die Santiago verlassen, einen persönlichen Segen. Der Gottesdienst ist sehr emotional und stellt für mich neben dem Abschied auch die Vorfreude auf zuhause, die Familie, dar. Eine schöne Zeit ist nun zu Ende und es gilt wieder den Schritt in den Alltag zu machen.

Nach der Messe gehe ich mit Peter ins San Martín frühstücken und bin ihm bei der Planung seiner Reise nach Fisterra behilflich. Den Rest des Tages verbringe ich in der Stadt und treffe noch einige Wegbegleiter der letzten Tage. Auch Ben erreicht schließlich im Laufe des Morgens Santiago. Es freut mich, ihn doch noch einmal zu sehen, um mich jetzt tatsächlich letztmalig von ihm zu verabschieden. Wir hatten eine schöne Zeit miteinander und werden in Verbindung bleiben.

Nach einem Bummel über den Markt - nach „meinem“ Pulpo-Koch suche ich jedoch vergebens - fehlt mir noch meine diesjährige Pilgermuschel. Ich treffe noch einmal Jürgen mit einigen seiner Weggefährten und finde in der Auslage einer privaten Herberge „meine“ Pilgermuschel.  Gegen 13:30 Uhr treffe ich mich mit Jürgen vor dem Seminario Menor. Wir fahren mit dem Taxi zum Flughafen, wo gegen 16:00 Uhr unser Flieger nach Hause starten soll. Am Abend kann ich dann meine Lieben in die Arme nehmen. Doch es kommt zunächst wieder einmal anders als geplant. Wir kommen erst rund 2:30 Stunden später von Santiago weg, da unser Flugzeug mit deutlicher Verspätung aus Palma kommend landet. Wir vertreiben uns die Zeit mit einer spontanen Gesprächsrunde mit anderen Pilgern aus Trier und dem Siegerland. Außerdem ist auch Nathalia aus Koblenz dabei, die Jürgen und ich aus unserem Pilgerforum kennen und die den Camino Frances ab Bilbao per Fahrrad bewältigt hat. Gegen 21:00 Uhr landen wir endlich auf dem Flughafen Hahn, wo ich von meiner Frau Susanne abgeholt werde.

 

   

 

Glückwünsche und Camino-Geschichte

Dienstag, 4. Juli 2017: Koblenz

Heute feiert Peter seinen 70. Geburtstag. Den Termin hatte ich mir schon in Spanien in den Kalender eingetragen. Am Abend rufe ich ihn an und gratuliere ganz herzlich zu seinem Jubiläum. Während des Gesprächs erzählt er mir seine Erlebnisse in Fisterra. Bei unserem Frühstück im San Martín hatte er von einer Pilgerin am Nebentisch den Tipp bekommen, in Fisterra in der Herberge Doña Lubina zu übernachten. Das hat auch geklappt. Zufällig schnappte er dort beim Gespräch von anderen Gästen meinen Wohnort Koblenz auf und erzählte, dass er sich gerade von einem Koblenzer verabschiedet habe. Sein Gegenüber fragte nach meinem Namen und entgegnete mit einem Lächeln: „Den kenne ich.“

Bei Peters Gesprächspartner handelte es sich um niemand anderen als meinen Pilgerfreund Karl-Heinz Jung, der mit seiner Lebenspartnerin eine Wagenladung Insektenhotels, Vogelnistkästen und Ähnliches im Rahmen seines Projektes „Kombination von Artenschutz und Wegemarkierung“ nach Spanien gebracht hatte und gerade bei seinem Freund, dem Schriftsteller Manolo Link, zu Besuch war. Die Welt ist klein.

Peter verlebte zwei schöne Tage mit den Dreien und schwärmt noch heute davon.

 

Überraschender Besuch vom Jakobsweg

Freitag, 11. August 2017: Koblenz

Schon vor ein paar Tagen hatte Ben mich informiert, dass er mit Monika in meiner Geburtstagswoche in Deutschland sei und sie mich gerne in Koblenz besuchen würden. Der Freitag war der günstigste Termin und so kam es dann auch. Gegen 17:00 Uhr trafen die beiden schließlich bei mir zu Hause ein. Es war für uns alle drei eine große Freude, uns wiederzusehen und meine Frau Susanne hatte die Gelegenheit, zwei meiner Pilgerfreunde kennenzulernen. Die beiden waren zuletzt gemeinsam in London, in Polen und Norwegen unterwegs. Aus Polen haben sie mir einen mit dem ersten Stempel versehenen Pilgerpass für den Pommerschen Jakobsweg mitgebracht, der in Litauen beginnt und sich dann an der Nordküste Polens und Mecklenburg-Vorpommerns entlangzieht. Dazu gab es ein Notizheft mit einer ganzen Reihe von Jakobsstempeln aus Polen. Tolle Idee!

Wir fahren direkt in die Stadt und kehren in die Tapas-Bar La Guarida ein, wo wir regelmäßig mit unserem Pilgerforum zu Gast sind. Es ist ein schönes Abendessen, bei dem Ben und Monika von ihren Erlebnissen der letzten Wochen erzählen. Eigentlich wollten wir nach dem leckeren Essen über das Koblenzer Sommerfest laufen, aber aufgrund anhaltenden Regens schwelgen wir lieber auf dem heimischen Sofa in Erinnerungen und schauen uns die Bilder von unserem Camino an.

Erst spät am Abend verabschieden sich die beiden. Wir vier haben einen schönen Abend verbracht und ich bin mir sicher, wir werden uns irgendwann wiedersehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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